NHS in Gefahr: Britisches Gesundheitssystem kollabiert

    NHS in Gefahr:Britisches Gesundheitssystem kollabiert

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    von Andreas Stamm
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    Stell dir vor, du wählst den Notruf und kein Krankenwagen kommt. In England ist das bei einem von vier Anrufen so. Eine alarmierende Quote eines kranken Gesundheitssystems.

    Ärzte in einem Krankenhaus in London
    Das gesamte Gesundheitswesen in Großbritannien steht vor dem Kollaps, auch viele Ärzte können sich das nötigste nicht mehr leisten
    Quelle: dpa

    Der ganze Stolz, gefeiert in einem Teil der Eröffnungsshow der Olympischen Spiele 2012 in London, eine britische Herzensangelegenheit. Frenetisch beklatscht während der Corona-Lockdowns auch von der Politik, die den NHS, den National Health Service, dennoch in die größte Krise seit Bestehen hat abrutschen lassen.

    Die vier Reiter der Apokalypse

    Die Liste der Probleme ist riesig. Das erste - die seit Jahren chronische Unterfinanzierung des staatlichen Gesundheitssystems. Der Stolz des Systems, dass es jeden behandelt, dass es quasi ohne Beiträge auskommt - finanziert über Steuermittel, was auch die Achillesverse ist. Seit 2010, mit Beginn der Sparpolitik der konservativen Regierung nach dem weltweiten Finanzcrash, ging es dem NHS ans Portfolio.
    Und damit dem größten Arbeitgeber des Landes - von der Apotheke über den Hausarzt bis zur Spitzenmedizin in Spezialkliniken - dort war eben viel zu holen, erklärt David Carr, fast 40 Jahre Krankenpfleger, nun Teil der Pflegedienst-Verwaltung des St. Thomas-Krankenhauses in London.

    Mein Lohn ist in den vergangenen Jahren, wenn man die Kaufkraft sieht, die Inflation und alles rausrechnet, um rund 15 Prozent gesunken.

    David Carr, Krankenpfleger in London

    Und so gehe es Kollegen in vielen Bereichen.

    Streik liegt in der Luft

    Ein Grund, warum es am 15. Dezember zum ersten Streik des Krankenpflegepersonals überhaupt kommen soll. Der Termin steht, noch kann verhandelt werden. Inflation plus 5 Prozent fordert die Gewerkschaft, das wären fast 17 Prozent mehr Lohn.
    Premierminister Rishi Sunak erklärt umgehend, das sei bei der angespannten Haushaltslage utopisch. Die Zeichen stehen auf Ausstand. Nur das Pflegepersonal, das würden wir wohl überstehen, zitieren britische Medien hochrangige NHS-Funktionäre. Aber auch die Nachwuchs-Ärzteschaft, die Physiotherapeuten und andere Gewerke denken über Streik nach, könnten sich anschließen.
    Dann drohe der komplette Kollaps, außer bei der absoluten Akutversorgung.

    Das böse B-Wort

    Zweites Problem - der Brexit. Allein 47.000 Krankenschwestern und -pfleger fehlen in England, erklärt David Carr. Nicht nur in London liegt das auch zu großen Teilen am Brexit. Medizinisches Personal aus der EU hat dem Land den Rücken gekehrt. Nun ist das Anwerben ein bürokratischer Albtraum. In die Ausbildung auf der Insel selbst wurde viel zu wenig investiert.
    Dazu sind ein Drittel der Betten im NHS von Patienten belegt, die entlassen werden sollten, aber aufgrund von Kürzungen im Altenpflegebereich, wegen fehlenden Mitarbeitern, nicht entlassen werden können. Der Mangel führt zur konstanten Überlastung des Personals, das reihenweise die Segel streicht. Burnout.

    Das böse C-Wort

    Corona - die Folgen der Pandemie. Der notorisch überlastete NHS ist dadurch bis weit über die Schmerzgrenze getrieben worden. Alles wurde auf Pandemie-Bekämpfung umgestellt, der Rückstau ist dramatisch.

    Mehr als sieben Millionen Menschen warten auf nicht dringende Operationen. Menschen, die Schmerzen haben.

    David Carr, Krankenpfleger in London

    Und der Rückstau ist seit dem Ende der Corona-Beschränkungen nochmal angewachsen, nicht abgeschmolzen. Es herrscht Verzweiflung, weil die Krise das neue Normal ist, und sich der Gesundheitszustand der Patienten weiter verschlimmert.
    Bei einem von vier Notrufen kann kein Krankenwagen geschickt werden, da die im Stau stehen, vor den Ambulanzen. Und weil niemand dort ist, um den Patient entgegenzunehmen. Kein Bett frei. 5.000 Personen, so ein NHS-Report, sei dadurch allein im Oktober ein "schwerer Schaden" zugefügt worden.

    Das böse L-Wort

    Doch damit nicht genug - die Lebenshaltungskostenkrise, die Inflation bei 11 Prozent, die explodierenden Energiepreise, das führt zu einer fast unglaublichen Entwicklung. Jeder vierte NHS-Trust, die lokalen Untereinheiten des Systems, bietet mittlerweile eine Tafel an - für die eigenen Mitarbeiter. Die nicht genug verdienen, um sich und ihre Familie zu ernähren.
    Ein weiteres Viertel der Trusts könnte bald folgen mit dem Angebot einer Essensausgabe. 14 Prozent des Pflegepersonals, Zehntausende im NHS, haben schon mindestens einmal eine Tafel genutzt.

    Nach der Schicht zur hausinternen Tafel

    In der Frauen- und Kinderklinik Birmingham heißt das: Frühstück können sich alle bedürftigen Mitarbeiter umsonst in der Kantine holen. Fiona, Sekretärin auf Station, holt gleich vor- und fürsorglich für alle Essen.

    Schon ein Sandwich ist so teuer geworden. Ich hole einfach etwas für einen guten Start in den Tag, damit alle genug Energie haben.

    Fiona, Sekretärin auf Station

    Im Krankenhaus gibt es einen Raum, in dem Mitarbeiter für andere Essen deponieren. Für Mitarbeiter auch mit Vollzeitjobs, erklärt Claire Atkinson aus der Personalvertretung. "Niemand sollte nach einer 12 Stunden-Schicht hungern müssen. Und wir reden hier nicht nur über Reinigungskräfte oder das Sicherheitspersonal. Sondern über junge Radiologen, Pfleger, Hebammen, die sich hier Sachen mitnehmen."
    Die konservative Regierung erklärt, man habe den NHS bei den jüngsten Haushaltssanierungen nicht nur ausgenommen, sondern das Budget werde wachsen. Von umgerechnet 177 Milliarden Euro in diesem Jahr auf 188 Milliarden bis 2025. Was, so Insider, nicht mal die erwarteten Mehrkosten durch die Inflation abdeckt.
    Alles in allem - ein NHS-Armutszeugnis.