L 5 KR 752/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 40 KR 5127/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 752/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 42/22 R
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 16.10.2020 geändert.

Die Beklagte wird unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen verurteilt, an die Klägerin 5.036,94 EUR nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus einem Betrag in Höhe von 2.833,47 EUR ab dem 30.08.2017 sowie aus einem Betrag in Höhe 2.203,47 EUR ab dem 02.09.2017 zu zahlen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits im Berufungsverfahren.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird auf 5.036,94 EUR festgesetzt.

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten über die Vergütung einer stationären Krankenhausbehandlung.

 

Das nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhaus der Klägerin behandelte die bei der Beklagten versicherte L (im Folgenden: Versicherte) in der Zeit vom 12.05.2014 bis zum 03.06.2014 stationär und berechnete ausgehend von der Fallpauschale (Diagnosis Related Group 2014 <DRG>) F59A (Mäßig komplexe Gefäßeingriffe oder komplexe Gefäßeingriffe ohne komplizierende Konstellation, ohne Revision, ohne komplizierende Diagnose, Alter > 2 Jahre, ohne bestimmte beidseitige Gefäßeingriffe, mit äuß. schweren CC oder Rotationsthrombektomie) 8.950,82 € (Rechnung vom 12.06.2014). Die Beklagte bezahlte die Rechnung zunächst vollständig. Am 01.07.2014 beauftragte die Beklagte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der Prüfung des Behandlungsfalls hinsichtlich der medizinischen Begründetheit der Überschreitung der oberen Grenzverweildauer sowie der Richtigkeit der DRG, der Hauptdiagnose und der Prozeduren. Der MDK kam in seinem Gutachten vom 27.06.2016 zu dem Ergebnis, dass sich in dem Behandlungsfall der Versicherten die Hauptdiagnose Z08.7 ergebe. Dies führe zu der DRG Z01B (OR-Prozeduren bei anderen Zuständen, die zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen, ohne komplexen Eingriff, ohne komplizierende Konstellation). Nach dem 26.05.2014 sei die stationäre Behandlung nicht mehr erforderlich gewesen, weil für die weiteren diagnostischen/therapeutischen Leistungen nicht mehr die besonderen Mittel eines Krankenhauses erforderlich gewesen seien. Am 20.06.2017 forderte die Beklagte die Klägerin zur Erstattung des sich ergebenden Differenzbetrages i.H.v. 5.036,94 € bis zum 11.07.2017 auf. Am 29.08.2017 verrechnete die Beklagte schließlich einen Betrag von 5.036,94 € mit zwei anderen Forderungen der Klägerin (Rechnung Nr. 01 vom 11.08.2017 und Rechnung Nr. 02 vom 17.08.2017) gemäß entsprechend übersandter Zahlungsmitteilung. Diese weist unter der Rechnungsnummer des Behandlungsfalls der Versicherten einen entsprechenden negativen Betrag aus.

 

Am 03.12.2018 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht Dortmund Klage erhoben. Die Aufrechnung der Beklagten sei unzulässig. Dies ergebe sich aus dem landesvertraglich vereinbarten Aufrechnungsverbot gemäß § 15 Abs. 4 S. 2 des nordrhein-westfälischen Sicherstellungsvertrages (im Folgenden: SVTr). Es liege keine Beanstandung rechnerischer Art vor. Die Beklagte bezweifle vielmehr die Richtigkeit der Abrechnung der Behandlung der Versicherten, greife also die sachliche Berechnung der Höhe nach an.

 

Die Klägerin hat beantragt,

 

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 5.036,94 € nebst Zinsen i.H.v. 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 30.08.2017 zu zahlen.

 

Die Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Sie hat vorgetragen, die mit der Klage verfolgte Vergütung sei durch Erfüllung erloschen. Die Aufrechnung sei zu Recht erfolgt. Der Beklagten habe ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch zugestanden. Der MDK habe im Rahmen seiner Begutachtung festgestellt, dass ein Fall der sekundären Fehlbelegung vorgelegen habe und die vom Krankenhaus abgerechnete DRG infolge einer fehlerhaft kodierten Hauptdiagnose nicht korrekt gewesen sei. Die stationäre Aufnahme sei lediglich vom 12.05.2014 bis zum 26.05.2014 medizinisch erforderlich gewesen. Hieraus resultiere eine Änderung der abgerechneten DRG F59A zu Z01B. Die Aufrechnung sei weder durch eine vertragliche noch durch eine gesetzliche Regelung ausgeschlossen. Insbesondere sei auf die Entscheidung des BSG vom 30.07.2019 – B 1 KR 31/18 R zu verweisen.

 

Im gerichtlichen Verfahren hat die Beklagte den MDK nochmals mit der Überprüfung des Behandlungsfalls beauftragt. Dieser kam in seinem Gutachten vom 29.08.2019 nunmehr zu dem Ergebnis, dass als Hauptdiagnose I74.3 zu kodieren gewesen sei. Daraus resultiere die DRG F59B (Mäßig komplexe Gefäßeingriffe oder komplexe Gefäßeingriffe ohne komplizierende Konstellationen, ohne Revision, ohne komplizierende Diagnosen, Alt. > 2 Jahre, ohne bestimmte beidseitige Gefäßeingriffe, ohne äußerst schwere CC, ohne Rotationsthrombektomie, mit aufwändigem Eingriff od. bestimmten Diagnosen oder Alt. < 16 Jahre). Hinsichtlich der Frage der Verweildauer werde dem Vorgutachten des MDK zugestimmt, weil eine Entlassung aus der Klinik am 26.05.2014 durchaus möglich gewesen sei. Die Beklagte hat die sich daraus ergebende Ersparnis mit 2.546,88 € beziffert.

 

Mit Urteil vom 16.10.2020 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 5.036,94 € nebst Zinsen i.H.v. 2 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 30.08.2017 zu zahlen. Die Aufrechnung sei unwirksam, weil sie gegen das landesvertragliche Aufrechnungsverbot verstoße. Die Nichtigkeit dieses Aufrechnungsverbotes ergebe sich insbesondere nicht aus der Entscheidung des BSG vom 30.07.2019 – B 1 KR 31/18 R. Das BSG habe nur entschieden, dass ein etwaiges Aufrechnungsverbot im Anwendungsbereich der PrüfvV nichtig sei. Vorliegend sei der zeitliche Anwendungsbereich der PrüfvV jedoch nicht eröffnet, weil diese erst für die Überprüfung bei Patienten, die ab dem 01.01.2015 in ein Krankenhaus aufgenommen worden seien, gelte. Es liege auch keiner der im Landesvertrag ausdrücklich genannten Fälle, in denen eine Aufrechnung zulässig sei, vor. Eine Beanstandung rechnerischer Art bzw. eine Rücknahme einer Kostenzusage habe dem Rückforderungsanspruch der Beklagten aus der vermeintlich zu Unrecht gezahlten Krankenhausvergütung nicht zu Grunde gelegen.

 

Gegen das Urteil hat die Beklagte am 05.11.2020 Berufung eingelegt. § 112 Abs. 1 S. 1 SGB V enthalte keine Ermächtigungsgrundlage für die Vereinbarung eines Aufrechnungsverbotes. Die Krankenkassen seien als Sozialversicherungsträger gemäß § 76 Abs. 1 SGB IV verpflichtet, Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben. Dieser Verpflichtung würden sie aber nicht gerecht, wenn sie sich durch Vereinbarung eines Aufrechnungsverbotes der Möglichkeit begäben, Forderungen schnell und kostengünstig zu realisieren. Auch dem in § 71 Abs. 1 S. 1 SGB V niedergelegten Grundsatz der Beitragsstabilität werde die Regelung in § 15 Abs. 4 des Sicherstellungsvertrages nicht gerecht. Der Gesetzgeber habe zudem mit der Einführung des § 109 Abs. 6 SGB V (zum 01.01.2020) erstmalig ein Aufrechnungsverbot statuiert und damit einen Paradigmenwechsel herbeigeführt. Schließlich sei der SVTr bereits am 08.04.2003 gekündigt worden. Dass dieser tatsächlich fortgelte, sei nicht erwiesen. Es sei unklar, in welcher Form und unter welchen Umständen eine Weitergeltung des Vertrages vereinbart worden sein soll. Schließlich müsse vor dem Hintergrund der Entscheidung des BSG vom 30.07.2019 – B 1 KR 31/18 R die Existenz des landesvertraglichen Aufrechnungsverbotes generell angezweifelt werden. Auch für den Zeitraum vor Inkrafttreten der PrüfvV müsse von einer Nichtigkeit des landesvertraglichen Aufrechnungsverbotes ausgegangen werden.

 

Die Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 16.10.2020 abzuändern und die Klage abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Die Bestätigung des Aufrechnungsverbotes entspreche der langjährigen ständigen Rechtsprechung der zuständigen Senate des LSG NRW. Auch das BSG habe schon mehrfach festgestellt, dass „Verrechnungsmodalitäten“ von den Vertragspartnern des Landesvertrages vereinbart werden dürften. Die Annahme eines Aufrechnungsverbotes führe auch nicht dazu, dass die Krankenkassen Forderungen gegenüber Krankenhäusern ausschließlich im Klagewege geltend machen müssten. Denn zum einen regele der Landesvertrag ausdrücklich Fälle, in denen die Aufrechnung möglich sei. Zum anderen seien Krankenkassen nicht verpflichtet, Abrechnungen vollständig zu begleichen, wenn Einwendungen gegen diese geltend gemacht würden (BSG, Urteil vom 22.07.2004 – B 3 KR 20/03 R; LSG NRW, Urteil vom 09.07.2020 – L 16 KR 395/16). Das Wirtschaftlichkeitsgebot werde durch ein Aufrechnungsverbot ebenfalls nicht verletzt, weil Krankenkassen nicht gezwungen seien, unberechtigte Forderungen zu begleichen. Der neu eingeführte § 109 Abs. 6 SGB V belege, dass das landesvertragliche Aufrechnungsverbot gerade nicht gegen Bundesrecht verstoße.

 

Ergänzend hat die Klägerin chronologisch die Geschehnisse nach der Kündigung des SVTr dargestellt und zugleich ausgeführt, warum dieser bis heute fort gelte. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat die Beklagte daraufhin an dem Vortrag, der SVTr besitze keine Gültigkeit mehr, nicht länger festgehalten.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

A. Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist nur aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

 

B. Die im Gleichordnungsverhältnis erhobene echte Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 SGG ist zulässig. Insbesondere ist der Streitgegenstand hinreichend bestimmt. Es reicht insofern aus, dass die Klägerin die Restzahlung der Behandlungskosten „aus dem Behandlungsfall, gegen den die Beklagte aufgerechnet hat“, mit ihrer Klage geltend macht. In Zusammenschau mit der in den Verwaltungsakten befindlichen Zahlungsmitteilung vom 29.08.2017, aus der Rechnungsdatum, -betrag und -nummer aller Forderungen hervorgehen, die miteinander verrechnet werden sollten, wird der Gegenstand der vorgenommenen Aufrechnung hinreichend konkretisiert. Dass die in der Zahlungsmitteilung genannten Rechnungsdaten nach den in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vorgelegten Rechnungskopien nicht korrekt waren, ändert nichts an der hinreichenden Bestimmtheit des Streitgegenstandes. Denn an Hand von Rechnungsnummern und Rechnungsbeträgen ließen sich die Behandlungsfälle, aus denen sich die Forderungen ergaben, gegen die aufgerechnet wurde, zweifelsfrei identifizieren.

 

Da auch auf Grund des erneuten MDK-Gutachtens vom 29.08.2019 kein (Teil-)Anerkenntnis der Beklagten erfolgt ist, streiten die Beteiligten weiterhin um den ursprünglichen Aufrechnungsbetrag i.H.v. 5.036,94 €.

 

C. Die Klage ist hinsichtlich der Hauptforderung auch begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Beklagte zur Zahlung des aufgerechneten Betrages verurteilt. Das Urteil war lediglich hinsichtlich der Nebenforderung zu ändern.

 

I. Die Forderungen, gegen die die Beklagte mit ihrem (behaupteten) öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch aus dem Behandlungsfall des Versicherten aufgerechnet hat, sind zwischen den Beteiligten unstreitig, so dass es einer weiteren Prüfung nicht bedarf.

 

II. Die streitbefangenen Forderungen bestehen jedoch unverändert fort. Sie sind insbesondere nicht durch Aufrechnung mit dem geltend gemachten Erstattungsanspruch gemäß § 389 BGB erloschen. Eine Aufrechnung ist nur dann wirksam (vgl. dazu im Einzelnen etwa BSG, Urteil vom 30.07.2019 - B 1 KR 31/18 R Rn. 11 ff.), wenn bei bestehender Aufrechnungslage (§ 387 BGB) die Aufrechnung erklärt wird (§ 388 BGB) und keine Aufrechnungsverbote entgegenstehen. Vorliegend scheitert die vorgenommene Aufrechnung am Bestehen eines Aufrechnungsverbotes.

 

1.) Nach § 15 Abs. 4 des gekündigten, aber weiterhin anwendbaren (dazu sogleich unter a)) Vertrages nach § 112 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V vom 06.12.1996 können Beanstandungen rechnerischer oder sachlicher Art auch nach Bezahlung der Rechnung geltend gemacht werden (Satz 1). Bei Beanstandungen rechnerischer Art sowie nach Rücknahme der Kostenzusage und falls eine Abrechnung auf vom Krankenhaus zu vertretenden unzutreffenden Angaben beruht, können überzahlte Beträge verrechnet werden (§ 15 Abs. 4 S. 2 SVTr).

 

a) Grundsätzliche Bedenken hinsichtlich der Anwendbarkeit des SVTr, insbesondere hinsichtlich dessen Fortgeltung im streitbefangenen Zeitraum, bestehen nicht. Das Schiedsstellenverfahren, das nach der Kündigung des Vertrages im Jahr 2003 eingeleitet wurde, ist nach wie vor nicht durch einen Schiedsspruch abgeschlossen. Auch ist ein neuer Vertrag bislang nicht geschlossen worden.

 

b) Wie der Senat und die weiteren, mit dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung betrauten Senate des LSG Nordrhein-Westfalen (NRW) bereits mehrfach entschieden haben (vgl. zuletzt Urteil des Senats vom 27.10.2022 – L 5 KR 903/20; des Weiteren LSG NRW, Urteil vom 27.03.2003 - L 5 KR 141/01; LSG NRW, Urteil vom 03.06.2003 – L 5 KR 205/02 Rn. 18; LSG NRW, Urteil vom 01.09.2011 - L 16 KR 212/08; LSG NRW, Urteil vom 24.05.2012 - L 16 KR 8/09, Rn. 23; LSG NRW, Urteil vom 06.12.2016 - L 1 KR 358/15, Rn. 46; LSG NRW, Beschluss vom 08.04.2019 - L 10 KR 723/17; LSG NRW, Urteil vom 24.02.2022 – L 16 KR 550/19 Rn. 27 zitiert jeweils nach juris), ergibt sich aus dieser Norm im Umkehrschluss ein Aufrechnungsverbot für Fälle, in denen Beanstandungen sachlicher Art geltend gemacht werden.

 

2.) Vorliegend greift keine der Ausnahmekonstellationen, in denen eine Aufrechnung gemäß § 15 Abs. 4 S. 2 SVTr ausdrücklich zulässig wäre, ein.

 

a) Eine Beanstandung rechnerischer Art liegt nicht vor. Eine solche betrifft nur Fehler in der Addition, Subtraktion etc., die aber vorliegend nicht geltend gemacht werden.

 

b) Anhaltspunkte für eine Rücknahme der Kostenzusage liegen ebenfalls nicht vor.

 

c) Die streitige Abrechnung beruht auch nicht auf von dem Krankenhaus zu vertretenden unzutreffenden Angaben. Die Klägerin hat die nach ihrer Auffassung für die erbrachten Leistungen einschlägige DRG, Zusatzentgelte und den Rechnungsbetrag angegeben. Diese Angaben spiegeln lediglich eine auf einer Subsumtion eines umfassenden Lebenssachverhalts beruhende Wertung wieder, nämlich dass die erbrachten Behandlungsleistungen den Vorgaben der genannten DRG und Zusatzentgelte entsprechen. Die Frage, ob diese Wertung zutreffend ist, macht die Bekanntgabe des Wertungsprozesses durch Zuordnung einer DRG oder eines Zusatzentgelts nicht zu einer "unzutreffenden Angabe" i.S.d. § 15 Abs. 4 SVTr wie z.B. die Angabe einer falschen Verweildauer, eines falschen Befundes oder einer nicht durchgeführten Behandlungsmaßnahme (vgl. z.B. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11.07.2018 – L 11 KR 492/17 Rn. 25 m.w.N.

 

3.) Dem in § 15 Abs. 4 S. 2 SVTr statuierten Aufrechnungsverbot steht auch kein höherrangiges Recht entgegen.

 

a) Das Aufrechnungsverbot kollidiert im vorliegenden Fall nicht mit der Vereinbarung über das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275 Abs. 1c SGB V (Prüfverfahrensvereinbarung – PrüfvV) gemäß § 17c Abs. 2 KHG. Nach der Rechtsprechung des BSG wäre zwar ein etwaiges in § 15 Abs. 4 S. 2 SVTr enthaltenes Aufrechnungsverbot im Anwendungsbereich der PrüfvV wegen deren § 9 nichtig (BSG, Urteil vom 30.07.2019 – B 1 KR 31/18 R Rn. 26 f. sowie Urteil vom 10.11.2021 – B 1 KR 36/20 R Rn. 22). Vorliegend war der Anwendungsbereich jedoch schon nicht eröffnet. Die Beteiligten streiten um einen Behandlungsfall aus dem Jahr 2014. Die PrüfvV wurde auf Grund der zum 01.08.2013 in Kraft getreten Ermächtigungsnorm des § 17c Abs. 2 KHG geschaffen und trat zum 01.09.2014 in Kraft. Sie gilt nach ihrem § 12 Abs. 1 S. 2 aber nur für die Überprüfung bei Patienten, die ab dem 01.01.2015 in ein Krankenhaus aufgenommen werden. Die vorliegend streitige Behandlung der Versicherten 12.05.2014 bis zum 03.06.2014 fällt damit nicht in den zeitlichen Anwendungsbereich der PrüfvV.

 

b) § 15 Abs. 4 S. 2 SVTr ist auch ausreichend von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt. Gemäß § 112 Abs. 1 SGB V schließen die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen gemeinsam mit der Landeskrankenhausgesellschaft oder mit den Vereinigungen der Krankenhausträger im Land gemeinsam Verträge, um sicherzustellen, dass Art und Umfang der Krankenhausbehandlung den Anforderungen dieses Gesetzbuchs entsprechen. Nach § 112 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 lit. b SGB V regeln die Verträge insbesondere die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung einschließlich der Kostenübernahme, Abrechnung der Entgelte, Berichte und Bescheinigungen. Das BSG hat diesbezüglich ausgeführt, dass diese Regelung die Vertragspartner dazu berechtigt, Modalitäten zur Abrechnung von Vertragsleistungen zu regeln. Ausdrücklich hat es hierunter auch „Verrechnungsmodalitäten“ gefasst (vgl. BSG, Urteil vom 28.03.2017 – B 1 KR 29/16 R Rn. 25, Urteil vom 21.04.2015 – B 1 KR 11/15 R Rn. 20 sowie Urteil vom 13.11.2012 – B 1 KR 27/11 R Rn. 35). Aus der neueren Rechtsprechung des BSG ergibt sich nichts Anderes. Soweit der 1. Senat des BSG jüngst eine Nichtigkeit des landesvertraglichen Aufrechnungsverbotes angenommen hat (s.o.), hat er dies allein mit einem Verstoß gegen § 9 PrüfvV, nicht aber mit einer fehlenden Ermächtigungsgrundlage begründet.

 

c) Schließlich dringt die Beklagte auch mit ihren weiteren Einwendungen nicht durch (dazu insgesamt schon LSG NRW, Urteil vom 22.12.2021 – L 11 KR 637/20). Weder liegt ein Verstoß gegen § 76 Abs. 1 SGB IV (dazu unter aa) noch gegen § 71 Abs. 1 S. 1 SGB V (dazu unter bb) vor. Auch der Neuregelung des § 109 Abs. 6 SGB V lässt sich eine Unwirksamkeit des landesvertraglichen Aufrechnungsverbotes nicht entnehmen (dazu unter cc).

 

aa) § 76 Abs. 1 SGB IV bestimmt, dass Einnahmen durch die Sozialversicherungsträger vollständig und rechtzeitig zu erheben sind. Unter die Norm fallen nicht nur Beiträge, sondern alle geldwerten Forderungen, die ihnen aus ihren öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Beziehungen zustehen (vgl. von Boetticher in jurisPK-SGB IV, 4. Auflage 2021, § 76 Rn. 12, Stand: 01.08.2021). Grundsätzlich fallen damit auch öffentlich-rechtliche Erstattungsansprüche der Krankenkassen gegenüber Krankenhausträgern unter die Norm. Die Norm steht jedoch einer vertraglichen Vereinbarung eines Aufrechnungsverbotes nicht entgegen. Denn die Vereinbarung eines Aufrechnungsverbotes im SVTr ist nicht gleichzusetzen mit einem gänzlichen Verzicht auf den Anspruch. Die Krankenkassen begeben sich damit lediglich jenseits der in § 15 Abs. 4 S. 2 SVTr geregelten Fälle der Möglichkeit, eine streitige Forderung geltend zu machen, ohne selbst den Klageweg beschreiten zu müssen. Der ihnen aus § 76 Abs. 1 SGB IV auferlegte Verpflichtung der Geltendmachung von Erstattungsforderungen können und müssen sie aber weiterhin durch außergerichtliche Einigungsversuche oder Klageerhebung nachkommen.

 

bb) Auch der in § 71 Abs. 1 S. 1 SGB V niedergelegte Grundsatz der Beitragssatzstabilität steht dem landesvertraglichen Aufrechnungsverbot nicht entgegen, weil deren Anwendungsbereich vorliegend schon nicht eröffnet ist. Die Norm bestimmt, dass die Vertragspartner auf Seiten der Krankenkassen und der Leistungserbringer die Vereinbarungen über die Vergütungen nach diesem Buch so zu gestalten haben, dass Beitragserhöhungen ausgeschlossen werden, es sei denn, die notwendige medizinische Versorgung ist auch nach Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven nicht zu gewährleisten. Absatz 1 Satz 1 erfasst daher nach seinem Regelungsgehalt alle Vergütungsvereinbarungen nach dem SGB  V, die zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern geschlossen werden. Bei dem Vertrag nach § 112 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB V handelt es sich aber gerade nicht um eine Vergütungsvereinbarung. Das Bestehen von Vergütungsvereinbarungen ist vielmehr zwingende Voraussetzung für die vorliegend streitige Norm des § 15 SVTr. Erst das Bestehen eines konkreten Vergütungsanspruchs macht es nämlich möglich, eine Vereinbarung über die Zahlungs- und Verrechnungsmodalitäten zu treffen (so auch LSG NRW, Urteil vom 22.12.2021 – L 11 KR 637/20 Rn. 49 <juris>). Selbst wenn man aber annähme, dass durch § 15 SVTr grundsätzlich eine Vereinbarung über die Vergütung getroffen würde, so bleibt festzuhalten, dass zumindest Abs. 4 der Norm sich nicht auf die von der Krankenkasse zu zahlenden Vergütungen bezieht, sondern auf die öffentlich-rechtlichen Erstattungsansprüche und deren vereinfachte Geltendmachung durch Aufrechnung durch die Krankenkassen. Die Erstattungsansprüche fallen aber nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 71 Abs. 1 S. 1 SGB V nicht unter die darin enthaltene Regelung.

 

cc) Schließlich lassen sich auch aus der zum 01.01.2020 neu geschaffenen Regelung des § 109 Abs. 6 SGB V keine Erkenntnisse über die Zulässigkeit eines bereits bestehenden Aufrechnungsverbotes gewinnen. Die Norm bestimmt, dass gegen Forderungen von Krankenhäusern, die aufgrund der Versorgung von ab dem 01.01.2020 aufgenommenen Patientinnen und Patienten entstanden sind, Krankenkassen nicht mit Ansprüchen auf Rückforderung geleisteter Vergütungen aufrechnen können. Die Aufrechnung ist nach Satz 2 allerdings möglich, wenn die Forderung der Krankenkasse vom Krankenhaus nicht bestritten wird oder rechtskräftig festgestellt wurde. In der PrüvV können zudem abweichende Regelungen vorgesehen werden. Nach der Gesetzesbegründung war diese Neuregelung notwendig geworden, weil Krankenkassen in der Vergangenheit Rückforderungsansprüche gegen Krankenhäuser wegen überzahlter Vergütungen durch Aufrechnung realisiert hätten, was zu Liquiditätsengpässen auf Seiten der Krankenhäuser geführt habe (BT-Drs. 19/13397, S. 54). Der Gesetzgeber hatte also erkannt, dass zu weitreichende Aufrechnungsmöglichkeiten der Krankenkassen die Krankenhäuser in finanzielle Schieflage bringen konnten. Dies zum einen, weil durch Aufrechnungen die Krankenkassen ihre behaupteten Erstattungsansprüche schnell und ohne den Klageweg zu beschreiten geltend machen konnten. Zum anderen verlagerte sich so das Prozess- und insbesondere das Prozesskostenrisiko eines Klageverfahrens, in dem die klagenden Krankenhäuser zunächst den Kostenvorschuss einzahlen müssen, auf diese. Wenn der Bundesgesetzgeber aus diesen Gründen nun bundesgesetzlich ein weitgehendes Aufrechnungsverbot statuiert hat, so mag dies eine Neuerung darstellen. Dies sagt jedoch nichts über die Zulässigkeit bereits zuvor bestehender Aufrechnungsverbote aus. Vielmehr liegt es nahe, dass die Neuregelung gerade das Ziel verfolgte, die landesvertraglich sehr unterschiedlich geregelten Verrechnungsmodalitäten zu vereinheitlichen, weil bislang nicht in allen Bundesländern derartige Aufrechnungsverbote bestanden hatten. Wenn der Gesetzgeber einem bisherigen Missstand durch die Einführung eines bundeseinheitlichen Aufrechnungsverbotes begegnen wollte, so ist es fernliegend anzunehmen, dass er bereits bestehenden landesrechtlichen Aufrechnungsverboten ihre Zulässigkeit absprechen wollte. Eine Entscheidung, ob diese ermächtigungskonform waren, wird damit gerade nicht getroffen.

 

D. Der geltend gemachte Zinsanspruch ergibt sich aus § 15 Abs. 1 S. 4 SVTr i.V.m. § 288 Abs. 1 BGB. Gemäß § 15 Abs. 1 SVTr sind Rechnungen innerhalb von 15 Kalendertagen nach Eingang zu begleichen. Ist der Fälligkeitstag ein Samstag, Sonntag oder gesetzlicher Feiertag, verschiebt er sich auf den nächstfolgenden Arbeitstag. Die vorliegend streitigen Rechnungen datieren – anders als vom Sozialgericht zunächst angenommen – nicht vom 10.08.2017 und vom 31.07.2017, sondern vom 11.08.2017 und 17.08.2017. Die Klägerin hat für beide Forderungen eine Verzinsung ab dem 30.08.2017 beantragt. Die Rechnung vom 17.08.2017, die der Beklagten am selben Tag zuging, wurde jedoch erst am 01.09.2017 (Freitag) fällig. Aus dem Umstand, dass die Beklagte ausweislich der vorgelegten Zahlungsmitteilung bereits am 29.08.2017 die Aufrechnung vornahm, ergibt sich nichts anderes. Ein Zinsanspruch entsteht nicht schon durch die konkludente Erfüllungsverweigerung in Form einer Aufrechnungserklärung. Eine antizipierte Erfüllungsverweigerung vor Eintritt der Fälligkeit löst noch keine Fälligkeit und damit auch keinen Verzug aus (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.2013 – B 1 KR 59/12 R Rn. 26 m.w.N.). Der Betrag i.H.v. 2.203,47 € war daher erst ab dem 02.09.2017 zu verzinsen. Hinsichtlich der Rechnung vom 11.08.2017 kommt schließlich eine über den Antrag der Klägerin hinausgehende Verzinsung für Zeiten vor dem 30.08.2017 nicht in Betracht.

 

E. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO. Eine Kostenquote allein auf Grund eines (Teil-)Obsiegens hinsichtlich der geltend gemachten Zinsen kommt wegen Geringfügigkeit nicht in Betracht.

 

F. Der Senat hat die Revision zugelassen, weil die Frage, ob das landesvertragliche Aufrechnungsverbot mit höherrangigem Recht vereinbar ist, von grundsätzlicher Bedeutung und bislang höchstrichterlich nicht geklärt ist. Ein entsprechendes Revisionsverfahren ist unter dem Aktenzeichen B 1 KR 14/22 R anhängig.

 

G. Die Streitwertfestsetzung für das Berufungsverfahren beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1 und 3, 47 Abs. 1 und 2 GKG.

 

Rechtskraft
Aus
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