L 8 KR 247/20

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 14 KR 154/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 247/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Die „gerichtliche Geltendmachung“ in § 325 SGB V a.F. umfasst jede Form der Rechtsdurchsetzung, sowohl aktiv als auch passiv und damit nicht nur die gerichtliche Klageerhebung, sondern auch die Aufrechnung.

Der Ausschlusswirkung des § 325 SGB V a.F. steht nicht entgegen, dass diese Vorschrift erst am 1. Januar 2019 in Kraft getreten ist und damit zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Aufrechnung noch nicht galt.

Der Anwendung des § 325 SGB V a.F. stehen vorliegend auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen. 

Zum Einwand mangelnden wirtschaftlichen Alternativverhaltens aufgrund der nicht angewandten Beurlaubungsregelung.   


Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Marburg vom 31. Juli 2020 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 2.598,26 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 30. November 2018 zu zahlen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen.

Die Revision wird nicht zugelassen.


Tatbestand

Im Streit steht die Vergütung von zwei zeitlich auseinanderliegenden stationären Behandlungsmaßnahmen, insbesondere die Frage, ob diese getrennt oder zusammen abzurechnen sind. 

Die bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte D. H. (nachfolgend Versicherte) wurde in dem zur Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung zugelassenen Krankenhaus der Klägerin im Zeitraum vom 22. bis 25. August 2016 und vom 17. bis 25. Oktober 2016 stationär behandelt. Von der Klägerin wurde gegenüber der Beklagten für den ersten Krankenhausaufenthalt mit Rechnung vom 30. September 2016 ein Gesamtbetrag von 1.998,26 € unter Zugrundelegung der DRG 168D (nicht operativ behandelte Erkrankungen und Verletzungen im Wirbelsäulenbereich, mehr als ein Belegungstag, oder andere Femurfraktur, außer bei Diszitis oder infektiöser Spondylopathie, ohne Kreuzbeinfraktur) und für den zweiten Krankenhausaufenthalt mit Rechnung vom 1. Dezember 2016 ein Gesamtbetrag von 6.953,04 € unter Zugrundelegung der DRG I10B (andere Eingr. an der WS mit best. kompl. Eingr. od. Halotraktion od. Para-/Tetrapl. od. Wirbelfraktur mit best. Eingr. an WS, Spinalkanal und Bandscheibe ohne äuß. schw. CC od. best. and. Operationen an der WS mit äuß. schw. CC und > 1 BT) geltend gemacht.

Die Beklagte beglich zunächst beide Rechnungen vollumfänglich und leitete anschließend ein Prüfverfahren ein. Dabei kam der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Nordrhein (MDK) durch den Facharzt für Orthopädie Dr. T. E. in einem Gutachten vom 18. April 2017 bezüglich der Notwendigkeit und ordnungsgemäßen Abrechnung des ersten Aufenthalts zu keinen Beanstandungen. Daraufhin stellte die Klägerin am 26. April 2017 eine Aufwandspauschale in Höhe von 300,00 € in Rechnung, die von der Beklagten am 9. Mai 2017 beglichen wurde. Bezüglich des zweiten Aufenthalts wurde durch den MDK (erneut Dr. T. E.) mit Gutachten vom 22. Juli 2017 ausgeführt, bei der Versicherten sei im Rahmen der präoperativ erforderlichen Diagnostik während des ersten Aufenthalts ein arterieller Hochdruck neu entdeckt worden. Daher sei sie am 25. August 2016 zur weiteren internistischen Klärung und medikamentösen Einstellung dieser Erkrankung entlassen worden. Die geplante Wiederaufnahme zur Operation sei bei der Entlassung auf den 17. Oktober 2016 festgelegt worden. Es handele sich bei der Aufnahme am 17. Oktober 2016 nicht um eine komplikationsbedingte, sondern um eine bereits bei der Entlassung am 25. August 2016 geplante Wiederaufnahme. Es wäre auch eine Beurlaubung zur weiteren internistischen Klärung und medikamentösen Einstellung dieser Erkrankung angemessen gewesen.

Mit Schreiben vom 3. August 2017 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass nach dem Ergebnis der Prüfung des MDK eine Zusammenlegung der Krankenhausaufenthalte erfolgen müsse. Bei der Entlassung am 25. August 2017 handele es sich um eine Beurlaubung im Sinne des § 1 Abs. 7 FPV 2016, da die erneute Wiederaufnahme nach medikamentöser Einstellung und weitere internistische Abklärung bereits zu diesem Zeitpunkt geplant gewesen seien. Aufgrund der Fallzusammenlegung sei allein die DRG I108 mit einem Relativgewicht von 2,116 zu kodieren. Hierdurch resultiere eine Erstattungsforderung i.H.v. 2.598,26 €. In dieser Höhe nahm die Beklagte am 29. November 2018 die Aufrechnung mit weiteren unstreitigen Behandlungsfällen der Klägerin vor.

Die Klägerin hat hiergegen am 5. Juni 2019 Klage vor dem Sozialgericht Marburg erhoben. Zur Begründung hat sie vorgetragen, ihr stehe die Vergütung in vollem Umfang zu, da eine Fallzusammenführung nicht durchzuführen sei. Die Fälle seien entsprechend § 8 KHEntgG getrennt abzurechnen, da keiner der Fallzusammenführungstatbestände der FPV einschlägig sei. Eine Fallzusammenführung sei auch nicht aufgrund der Rechtsprechung zum fiktiven wirtschaftlichen Alternativverhalten vorzunehmen. Die Versicherte habe zwingend zunächst einer internistischen Behandlung zugeführt werden müssen. Vorher sei eine operative Versorgung medizinisch unmöglich gewesen, da ein zu hohes operatives Risiko bestanden habe. Die Geschehnisse würden im MDK-Gutachten verkürzt dargestellt werden. Die Aufrechnung sei zudem nach § 325 SGB V verspätet erfolgt. Eine Forderung, die nicht mehr geltend gemacht werden könne, stelle keine voll wirksame Forderung im Sinne der §§ 387 ff. BGB dar, deren Erfüllung noch erzwungen werden könne. Es sei unbeachtlich, dass diese Regelung zum Zeitpunkt der Aufrechnung noch nicht in Kraft gesetzt gewesen sei. Die rückwirkende Inkraftsetzung durch den Gesetzgeber begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Aufgrund der durchgeführten getrennten Abrechnung seien alle Voraussetzung des § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V, insbesondere die fehlende Minderung des Abrechnungsbetrages, zu bejahen, so dass auch die Zahlung der Aufwandspauschale vollumfänglich gerechtfertigt gewesen sei. 

Die Beklagte hat darauf hingewiesen, dass nach dem Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 28. März 2017 - B 1 KR 29/16 R) ein Krankenhaus einen stationär behandelten Versicherten zu beurlauben habe, wenn es beabsichtige, diesen ihn in einem überschaubaren Zeitraum zur Fortsetzung der Behandlung wiederaufzunehmen, ohne dass dessen Wiederaufnahme im Zeitpunkt der Unterbrechung bereits sicher feststehen müsse. Aufgrund der zwingend angezeigten, hier aber von der Klägerin trotz Existenz der Beurlaubungsmöglichkeit als gleich zweckmäßiger und notwendiger Behandlungsmöglichkeit unterlassenen Prüfung einer wirtschaftlicheren Beurlaubung der Versicherten hätte sie hier nur eine Abrechnung für beide Aufenthaltszeiträume stellen dürfen. Dann hätte die Beklagte auch keine MDK-Begutachtung des Voraufenthaltes veranlasst, so dass auch keine Aufwandspauschale hätte gezahlt werden müssen. Die Klägerin habe diese gesonderte Begutachtung durch ihr gegen das Gebot der Wirtschaftlichkeit verstoßendes Abrechnungsverhalten selbst veranlasst. § 325 SGB V sei verfassungswidrig. Eine Aufwandspauschale stelle schon keinen Vergütungsanspruch dar, so dass diese Vorschriften hier nicht zur Anwendung gelangen könnten. 

Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 31. Juli 2020 abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung von 2.598,26 €, da die Beklagte berechtigt gewesen sei, in dieser Höhe mit einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch wegen Überzahlung der Vergütung für die Krankenhausbehandlung der Versicherten analog § 387 BGB die Aufrechnung zu erklären. Die Klägerin habe unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots nur Anspruch auf Vergütung eines durch eine Beurlaubung unterbrochenen Behandlungsfalles gehabt. Ihr stehe daher auch kein Anspruch auf eine Aufwandspauschale zu. Die Klägerin habe nach der Rechtsprechung des BSG lediglich Anspruch auf die Vergütung, die bei fiktivem wirtschaftlichem Alternativverhalten angefallen wäre, da sie die Versicherte in nicht wirtschaftlicher Weise behandelt habe. Wähle das Krankenhaus einen unwirtschaftlichen Behandlungsweg, könne es allenfalls die Vergütung beanspruchen, die bei fiktivem wirtschaftlichem Alternativverhalten angefallen wäre. Die Voraussetzungen einer Beurlaubung seien erfüllt, wenn die weitere Behandlung bereits am Entlassungstag kurzfristig absehbar sei. Hierfür reiche es aus, dass das Krankenhaus bei der Behandlungsunterbrechung die Indikation für die Wiederaufnahme stelle, um die Behandlung zeitnah fortzusetzen (Bezug auf BSG, Urt. v. 28. März 2017 - B 1 KR 29/16 R, juris Rn. 17 ff.). Die Versicherte sei am 25. August 2016 zur weiteren internistischen Klärung und medikamentösen Einstellung der während des ersten Krankenhausaufenthalts neu festgestellten Erkrankung entlassen worden. Die geplante Wiederaufnahme zur Operation sei bereits bei der Entlassung auf den 17. Oktober 2016 festgelegt worden. Es habe sich damit um eine bereits bei der Entlassung geplante Wiederaufnahme gehandelt. Eine Beurlaubung im krankenversicherungsrechtlichen Sinn wäre zur weiteren internistischen Klärung und medikamentösen Einstellung dieser Erkrankung angemessen gewesen. Daher habe der Klägerin nur eine Vergütung unter Beachtung der Fallzusammenführung zugestanden. Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch der Beklagten sei weder verjährt noch nach § 325 SGB V ausgeschlossen gewesen. Bereits wegen der Geltung des § 325 SGB V erst zum 1. Januar 2019 sei die Norm zum Verrechnungszeitpunkt nicht wirksam gewesen. Im Übrigen setze sie voraus, dass die Krankenkasse den Anspruch gerichtlich geltend mache. § 325 SGB V könne nur auf die Durchsetzung durch die Einleitung gerichtlicher Verfahren bezogen werden. Die Übergangsvorschrift des § 325 SGB V enthalte keine Aussagen zur Möglichkeit einer Aufrechnung von Krankenhausforderungen mit Rückforderungsansprüchen der Krankenkassen. Die Klägerin habe auch die Aufwandspauschale ohne Rechtsgrund an die Beklagte gezahlt. Sie habe wegen der berechtigten Kürzung mit der Folge einer Minderung des Abrechnungsbetrags keinen Anspruch auf Zahlung einer Aufwandspauschale. Dabei komme es nicht auf die Rechnung für den ersten Krankenhausaufenthalt allein an, da sich deren Fehlerhaftigkeit erst durch den zweiten Krankenhausaufenthalt ergeben habe. 

Am 14. August 2020 hat die Klägerin hiergegen Berufung am Hessischen Landessozialgericht eingelegt. 

Sie ist der Ansicht, § 325 SGB V sei auf die vorliegende Fallkonstellation vollumfänglich anwendbar. Es habe sich bei dem streitigen Anspruch um einen Anspruch auf Rückzahlung geleisteter Vergütungen gehandelt, der vor dem 1. Januar 2017 entstanden und nicht bis zum 9. November 2018 gerichtlich geltend gemacht worden sei, sondern erst durch die zeitlich nachgelagerte Aufrechnung. Der Rückforderungsanspruch der Beklagten habe gemäß § 325 SGB V ab dem 10. November 2018 nicht mehr „geltend gemacht“ werden können. Damit sei auch eine Aufrechnung des Anspruchs ausgeschieden. Die fehlende Möglichkeit der „Geltendmachung“ bedinge unmittelbar den Ausschluss der Aufrechenbarkeit.  Eine Forderung, die nicht mehr geltend gemacht werden könne, sei nicht voll wirksam, durchsetzbar und erzwingbar im Sinne der §§ 387 ff. BGB. Da § 325 SGB V eine materielle Ausschlussfrist beinhalte, sei die Rückforderung zum Zeitpunkt ihrer Geltendmachung ausgeschlossen gewesen. Im Übrigen seien ihre Vergütungsforderungen auch in der Sache begründet gewesen, da die Voraussetzungen für eine Beurlaubung der Versicherten nicht vorgelegen hätten. Nach der neueren Rechtsprechung des BSG (Bezug auf Urteil vom 26. April 2022 – B 1 KR 14/21 R) setzte dies eine Fortsetzung der stationären Behandlung in einem Zeitraum von höchstens 10 Tagen voraus, was vorliegend nicht erfolgt und nicht möglich gewesen sei.

Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Marburg vom 31. Juli 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 2.598,26 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 30. November 2018 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie sieht sich durch den angefochtenen Gerichtsbescheid bestätigt. Nach den zutreffenden Feststellungen des Sozialgerichts sei § 325 SGB V zum Verrechnungszeitpunkt hier schon wegen der Geltung erst ab dem 1. Januar 2019 nicht wirksam. Im Übrigen sei es Voraussetzung des § 325 SGB V, dass die Krankenkasse den Anspruch gerichtlich geltend mache, was eine Klageerhebung voraussetze. Der § 325 SGB V beziehe sich nur auf die Einleitung gerichtlicher Verfahren. Die Regelung sage nichts zur Möglichkeit der Aufrechnung von Seiten der Krankenkassen aus. Durch die Regelung sei den Krankenkassen bei vor dem 1. Januar 2017 entstandenen Rückforderungsansprüchen lediglich die Möglichkeit zur aktiven Durchsetzung ihrer Ansprüche entzogen worden. Die Beklagte gehe zudem davon aus, dass § 325 SGB V eine echte Rückwirkung beinhalte und damit verfassungswidrig sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. 


Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.

Der Klägerin steht gegenüber der Beklagten der geltend gemachte Anspruch auf Zahlung von 2.598,26 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20. November 2018 zu. Die Beklagte war zur Geltendmachung einer Erstattungsforderung mittels der am 29. November 2018 erfolgten Aufrechnung nicht berechtigt. 

Bezüglich der gesetzlichen und vertraglichen Rechtsgrundlagen des geltend gemachten Vergütungsanspruchs des Klägers sowie der grundsätzlichen Zulässigkeit einer Aufrechnung der Beklagten mit einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts in dem angefochtenen Urteil Bezug genommen und von einer nochmaligen Darstellung abgesehen (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Der wirksamen Aufrechnung der Erstattungsforderung bezüglich der vermeintlich rechtsgrundlosen Vergütung der stationären Behandlung der Versicherten H. in Höhe von 2.298,26 € stand bereits die Ausschlussregelung des § 325 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) in der vorliegend anwendbaren Fassung vom 11. Dezember 2018 entgegen. Danach ist die Geltendmachung von Ansprüchen der Krankenkassen auf Rückzahlung von geleisteten Vergütungen ausgeschlossen, soweit diese vor dem 1. Januar 2017 entstanden sind und bis zum 9. November 2018 nicht gerichtlich geltend gemacht wurden. Durch diese Norm wurde mit Rückwirkung eine von Amts wegen zu beachtende „gesetzliche Ausschlussfrist“ eingeführt (vgl. BT-Drs. 19/5593 S. 124), die über den Charakter einer bloßen Übergangsvorschrift hinausgeht. Die Regelung enthält eine materielle Ausschlussfrist, die von Amts wegen zu berücksichtigen ist und nicht gesondert geltend gemacht werden muss. Entgegen der Ansicht der Beklagten sowie der Entscheidung des Sozialgerichts umfasst die „gerichtliche Geltendmachung“ in § 325 SGB V zur Überzeugung des Senats jede Form der Rechtsdurchsetzung, sowohl aktiv als auch passiv und damit nicht nur die gerichtliche Klageerhebung, sondern auch die Aufrechnung (ebenso Landessozialgericht - LSG - Baden-Württemberg, Urteil vom 3. November 2020 – L 11 KR 2249/20 –, juris Rn. 21 m.w.N.). Nach dem Wortlaut ist zwar nur die „Geltendmachung“ des Rückzahlungsanspruchs ausgeschlossen, nicht der Anspruch selbst. Nach dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck der Regelung (Entlastung der Sozialgerichte, Durchsetzung des Rechtsfriedens, vgl. BT-Drs. 19/5593, S. 123 f.) umfasst diese aber jegliche Form der Anspruchsdurchsetzung, d. h. neben der gerichtlichen Geltendmachung insbesondere auch die Aufrechnung mit Vergütungsansprüchen des Krankenhauses; auch wenn die Aufrechnungslage bereits vor Fristablauf bestanden hat (zur inhaltsgleichen Nachfolgeregelung in § 409 SGB V: Bockholdt in: Hauck/Noftz SGB V, § 409, Rn. 15a m.w.N.).

Der Ausschlusswirkung des § 325 SGB V steht auch nicht entgegen, dass diese Vorschrift erst am 1. Januar 2019 in Kraft getreten ist und damit zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Aufrechnung noch nicht galt. Zwar erlöschen sich gegenüberstehende Forderungen durch die Aufrechnung nach § 389 BGB mit Rückwirkung vom Zeitpunkt des Eintritts der Aufrechnungslage. Durch die rückwirkend geltende Gesetzesänderung ist die Aufrechenbarkeit mit Rückwirkung entfallen. Insoweit verbietet § 325 SGB V als speziellere Regelung den Rückgriff auf § 215 BGB (LSG Baden-Württemberg, a.a.O. Rn. 23 m.w.N.).

Der Anwendung des § 325 SGB V stehen vorliegend auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen. Die Beklagte kann sich als gesetzliche Krankenkasse nicht auf eine Verletzung des Rückwirkungsverbots als von der Verfassung geschütztes Recht berufen. Sie ist eine öffentlich-rechtliche Körperschaft und deshalb nicht grundrechtsfähig (Bundesverfassungsgericht - BVerfG, Beschluss vom 9. Juni 2006 – 2 BvR 1248/03 – juris Rn. 25 ff; BSG‚ Urteil vom 22. Oktober 2014 – B 6 KA 3/14 R – juris Rn. 28). Die Verfassungsmäßigkeit eines rückwirkenden Gesetzes ist nur dann fraglich, wenn es sich um ein den Bürger belastendes Gesetz handelt. Das grundsätzliche Verbot rückwirkender belastender Gesetze beruht auf den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Es schützt das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte (BVerfG, Beschluss vom 17. Dezember 2013 – 1 BvL 5/08 – juris Rn. 63). § 325 SGB V verstößt weder abstrakt noch konkret gegen höherrangiges Recht. Durch diese Regelung werden die Krankenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechtes mit Selbstverwaltung belastet, indem ihnen bestehende Ansprüche auf Rückzahlung von Krankenhausvergütungen genommen werden. Ein Verstoß gegen Grundrechte kommt nicht in Betracht, denn Krankenkassen sind als Träger mittelbarer Staatsverwaltung unter Beachtung der Rechtsprechung des BVerfG nicht grundrechtsfähig (vgl. Entscheidungen des BVerfG vom 31. Januar 2008 – 1 BvR 2156/02, 9. Juni 2004 - 2 BvR 1248/03, 7. Juni 1991 - 1 BvR 1707/88; LSG Baden-Württemberg, a.a.O., Rn. 23 - 26, m.w.N.; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. Januar 2021 – L 1 KR 336/20 –, juris Rn. 24 ff; Bockholdt a.a.O. Rn. 15).

Vorliegend wurde von der Beklagten im Hinblick auf die geltend gemachte Überzahlung der am 1. Dezember 2016 in Rechnung gestellten Vergütungsforderung i.H.v. 2.598,26 € bis zum 9. November 2018 weder die Aufrechnung erklärt noch Klage erhoben. Die erst am 29. November 2018 erfolgte Aufrechnung mit weiteren unstreitigen Behandlungsfällen der Klägerin ist nach den vorstehenden Ausführungen aufgrund Verstoßes gegen die Ausschlusswirkung des § 325 SGB V zu Unrecht erfolgt, so dass die Entscheidung des Sozialgerichts Marburg keinen Bestand haben kann. 

Dem Erstattungsanspruch der Beklagten steht darüber hinaus entgegen, dass die Vergütungsforderungen für die stationären Behandlungsmaßnahmen der Versicherten im Zeitraum vom 22. bis 25. August 2016 und vom 17. bis 25. Oktober 2016 von der Klägerin sachlich-rechnerisch korrekt in zutreffender Höhe in Rechnung gestellt worden sind. Der von der Beklagten erhobene Einwand mangelnden wirtschaftlichen Alternativverhaltens aufgrund der nicht angewandten Beurlaubungsregelung ist unbegründet. 

Ein Krankenhaus hat auch bei der Vergütung der Krankenhausbehandlung durch Fallpauschalen einen Vergütungsanspruch gegen einen Träger der gesetzlichen Krankenversicherung - korrespondierend mit dem Leistungsanspruch der Versicherten - nur für eine erforderliche und wirtschaftliche Krankenhausbehandlung. Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 Satz 2 sowie § 2 Abs. 1 Satz 1, § 4 Abs. 3, § 70 Abs. 1 SGB V). Aus dem Wirtschaftlichkeitsprinzip folgt die Pflicht des Krankenhauses, bei der Behandlungsplanung auch die Möglichkeit wirtschaftlichen Alternativverhaltens zu prüfen und die Behandlungsplanung ggf. daran auszurichten. Der Nachweis der Wirtschaftlichkeit erfordert, dass bei Existenz verschiedener, gleich zweckmäßiger und notwendiger Behandlungsmöglichkeiten die Kosten für den gleichen zu erwartenden Erfolg geringer oder zumindest nicht höher sind. Denn nur die geringere Vergütung ist wirtschaftlich (stRspr., vgl. BSG Urteil vom 27. Oktober 2020 - B 1 KR 9/20 R - juris Rn. 14 und 16). Versicherte dürfen danach nicht entlassen werden, wenn - etwa durch eine medizinisch gebotene Diagnostik oder eine sonstige gebotene medizinische Intervention im weitesten Sinne - in einem überschaubaren Zeitraum Klarheit darüber geschaffen werden kann, ob eine Fortsetzung der stationären Behandlung medizinisch geboten ist, und ggf. die Fortsetzung der Behandlung aus medizinischen Gründen auch tatsächlich erfolgen kann. Maßgeblich dafür ist der im Zeitpunkt der Entscheidung über die Entlassung verfügbare Wissens- und Kenntnisstand der Krankenhausärzte. Insoweit gilt hinsichtlich der Fortsetzung der stationären Krankenhausbehandlung nichts Anderes als hinsichtlich der Aufnahme Versicherter in die stationäre Krankenhausbehandlung. Es ist von dem im Behandlungszeitpunkt verfügbaren Wissens- und Kenntnisstand der verantwortlichen Krankenhausärzte auszugehen. Diesbezüglich ist in der Regel ein Zeitraum von zehn Tagen ab der Entscheidung über die Entlassung bis zur Fortsetzung der Behandlung noch als überschaubar anzusehen. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn die Verzögerung auf rein organisatorischen Zwängen und Kapazitätsproblemen im Krankenhaus beruht. Das Wirtschaftlichkeitsgebot gebietet es dann, Versicherte auch über zehn Tage hinaus zu beurlauben (BSG, Urteil vom 26. April 2022 – B 1 KR 14/21 R, juris Rn. 19 f.). 

Die Zeitspanne zwischen der Entlassung der Versicherten am 25. August 2016 und ihrer Aufnahme zur erneuten stationären Behandlung am 17. Oktober 2016 überschreitet den vorgenannten Rahmen eines überschaubaren Zeitraums zur notwendigen Klärung, ob eine Fortsetzung der stationären Behandlung medizinisch geboten ist und die Fortsetzung der Behandlung aus medizinischen Gründen auch tatsächlich erfolgen kann, bei weitem. Vorliegend können hierfür auch keine organisatorischen Zwänge und Kapazitätsprobleme im Krankenhaus der Klägerin angeführt werden. Dies folgt zweifelsfrei aus dem Gutachten des MDK vom 22. Juli 2017, wonach bei der Versicherten im Rahmen der präoperativ erforderlichen Diagnostik während des ersten Aufenthalts ein arterieller Hochdruck neu entdeckt wurde und die Entlassung am 25. August 2016 zur weiteren internistischen Klärung und medikamentösen Einstellung dieser Erkrankung als Voraussetzungen der beabsichtigten operativen Versorgung erforderlich war. Hierbei handelt es sich um ausschließlich medizinische Gründe, welche der Fortführung der stationären Behandlung am 25. August 2016 entgegenstanden. Für den Senat erscheint es ohne weiteres nachvollziehbar, dass die diagnostische Abklärung und insbesondere die medikamentöse Einstellung einer Bluthochdruckerkrankung allein aus medizinischen Gründen nicht innerhalb des vorgenannten 10-Tages Zeitraums erfolgen kann. Anhaltspunkte dafür, dass darüber hinaus auch organisatorische Zwänge oder Kapazitätsprobleme im Krankenhaus der Klägerin für den Zeitraum von mehr als 8 Wochen zwischen den stationären Aufenthalten verantwortlich sein könnten, sind nicht ersichtlich. 

Die danach separat abzurechnenden Behandlungszeiträume wurden von der Klägerin korrekt unter Ansatz der Fallpauschale DRG 168D für die Zeit vom 22. bis 25. August 2016 in Höhe von 1.998,26 € sowie der Fallpauschale DRG I10B für die Zeit vom 17. bis 25. Oktober 2016 in Höhe von 6.953,04 € abgerechnet. Dies wird auch von der Beklagte nicht in Abrede gestellt.

Aufgrund dessen wurde von der Klägerin der Beklagten auch zu Recht gem. § 275 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1c Satz 3 SGB V die Aufwandspauschale von 300,- € in Rechnung gestellt, da die MDK-Prüfungen im Ergebnis weder zu einer Rechnungsminderung geführt haben noch durch eine sachlich-rechnerisch unkorrekte Rechnungsstellung der Klägerin veranlasst worden sind.

Der Zinsanspruch der Klägerin folgt aus § 10 Abs. 5 des Hessischen Vertrages über die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung i.V.m. § 112 Abs. 2 S.1 Nr. 1 SGB V und § 291 BGB.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i. V. m. §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung und folgt dem Ausgang des Verfahrens.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
 

Rechtskraft
Aus
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