Wird schon schiefgehen – Seite 1

Wie viele freie Betten gibt es aktuell in Deutschlands Krankenhäusern? Wie viele Pflegekräfte, um Patientinnen und Patienten zu versorgen? Und wie viele Menschen sind aktuell mit dem Coronavirus infiziert?

Wenn Sie diese Fragen nicht beantworten können, scheint das gerade nicht weiter schlimm. Noch ist der Sommer da. Doch die Deutsche Krankenhausgesellschaft warnt schon vor einem Winter, in dem Infektionsfälle – nicht nur mit Corona – das Gesundheitssystem belasten könnten.

Nicht so gut ist daher, dass auch kein Gesundheitsminister, kein Expertenrat, kein Robert Koch-Institut die Antworten auf diese Fragen kennt. Selbst auf dem Höhepunkt der Pandemie im vorletzten Jahr, als Tag für Tag Hunderte Menschen in Deutschland an den Folgen einer Corona-Infektion starben, kannte niemand die Antworten.

Deutschland hat hervorragende Krankenhäuser, Ärzte und Ärztinnen; kaum ein Land der Welt gibt mehr Geld pro Kopf für Gesundheit aus. Auf der individuellen Ebene, mit Blick auf den einzelnen Patienten, wird sehr viel getan. Geht es aber um grundsätzliche Fragen, etwa um Prävention oder einen gezielten, vorausschauenden Einsatz von medizinischen Ressourcen, passiert deutlich weniger. Auch weil es an einer digitalen Infrastruktur für das Gesundheitssystem mangelt und Daten fehlen. Die digitale Patientenakte? Wurde erst mit großer Verspätung vorangetrieben. Ein digitaler öffentlicher Gesundheitsdienst? Haben viele Fachleute inzwischen aufgegeben. Eine systematische Erfassung des Infektionsgeschehens? Wurde oft gefordert, aber nie umgesetzt.

Deutschland ist noch immer das Land der Patientenmappen aus rosa Pappkarton, der Befundübermittlung per Fax, der ewigen Datenschutzbedenken. Andere Länder sind deutlich besser aufgestellt. Sie erheben Daten digital, und sie tauschen und werten sie aus zum Wohle aller.

Neu sind diese Erkenntnisse nicht. Der Mangel ist in der Pandemie immer wieder beklagt worden, von Forschenden, von Journalisten, gelegentlich auch aus der Politik. Doch im zweijährigen Dauernotfall fiel es schwer, Grundsätzliches anzugehen. Dann kamen Krieg und Energiekrise.

Jetzt aber wäre es eigentlich an der Zeit, zurück- und in der Folge nach vorn zu blicken: Was soll sich verbessern? Und wo funktioniert das überhaupt? Konkret: Was muss passieren, damit Deutschland auf die nächste Pandemie besser vorbereitet ist?

Ein paar Dinge kommen tatsächlich in Bewegung, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach setzt beispielsweise endlich die elektronische Patientenakte durch. "Wir starten jetzt die Aufholjagd", verkündete der Minister im Juni auf einer Konferenz. Ein Medizinforschungsgesetz soll noch in diesem Jahr die Digitalisierung bei klinischen Studien deutlich verbessern. Aber eine systematische Aufarbeitung der Defizite findet nicht statt; viele grundsätzliche Probleme geht niemand an. "Die Haltung scheint zu sein: Schwamm drüber, ist doch gut gelaufen", sagt der Epidemiologe Stefan Scholz, der bis zum vergangenen Jahr am Robert Koch-Institut gearbeitet hat. Bleibt die Datenlage aber so unübersichtlich, werden Patienten schlechter versorgt als möglich, und es werden mehr Menschen sterben, als nötig wäre.

In Großbritannien läuft der Umgang mit Daten besser

Was viele Verantwortliche verdrängen: Mit dem Ende der Pandemie haben diese Themen nur scheinbar an Dringlichkeit verloren. Da ist zum einen der jederzeit mögliche Ausbruch einer neuen unbekannten Seuche. In der Krise hat niemand Zeit für grundlegende Strukturreformen – daher besser vorher anfangen. Dazu kommt: Auch ohne akute Notlage gibt es genug Herausforderungen, bei deren Bewältigung gute Daten enorm hilfreich sein können. Scholz verweist auf den Kostendruck im Gesundheitswesen, der einen gezielten Ressourceneinsatz erforderlich macht: "Wenn wir nicht stärker den Blick auf die Bevölkerung einnehmen, können wir das Gesundheitssystem auf Dauer nicht finanzieren."

1 % der Versicherten nutzt bislang die elektronische Patientenakte.

So argumentiert auch Christian Karagiannidis: "Der demografische Wandel kostet uns in den nächsten zehn Jahren mindestens ein Viertel des Klinikpersonals", sagt der Intensivmediziner, der Mitglied des Corona-Expertenrates der Bundesregierung war. Zugleich steige in der alternden Gesellschaft der Behandlungsaufwand: "Wir werden künftig jeden Winter eine punktuelle Überlastung der Krankenhäuser haben." Man brauche daher ein digitalisiertes, tagesaktuelles Monitoring der Behandlungskapazitäten, also der belegten und der freien Betten – unter Berücksichtigung des verfügbaren Personals.

In Großbritannien läuft der Umgang mit Daten anders, besser. Sebastian Funk etwa schwärmt von den Arbeitsbedingungen, die er in England vorgefunden habe. Der deutsche Epidemiologe arbeitet als Professor an der London School for Hygiene and Tropical Medicine, einem weltweit führenden Institut. Eine wichtige Rolle spielt der Infection Survey der nationalen Statistikbehörde ONS. Alle 14 Tage haben die Statistiker während der Pandemie Proben von bis zu 180.000 Menschen ausgewertet. Sie haben Fragebögen verteilt und Antikörpertests gemacht. Weil die Probanden zufällig aus der gesamten Bevölkerung ausgewählt wurden, hatten die Briten stets ein unverzerrtes Bild der Infektionslage. "Wir wollten möglichst viel darüber wissen, wie die Infektionen in der Bevölkerung verteilt sind, und das ohne Verzerrung durch das persönliche Testverhalten", sagt Funk. Die Briten konnten nicht nur die Zahl der Infizierten vergleichsweise exakt bestimmen, sondern sie auch aufschlüsseln, nach Regionen, Altersgruppen, Berufstätigkeit, Impfstatus und Vorerkrankungen.

In Deutschland wurde im Wesentlichen nur im Verdachtsfall getestet, also bei Menschen, die Kontakt mit einer infizierten Person hatten oder selbst Krankheitssymptome bemerkt hatten. Wie viele Fälle dabei unerkannt blieben, kann niemand sagen. Dazu kam ein gehöriger Zeitverzug, weil in vielen Gesundheitsämtern lange jeder Bescheid per Fax ankam und eine Mitarbeiterin die Angaben erst mal abtippen musste. Oft stapelten sich die unbearbeiteten Faxe in den Amtsstuben. Das Resultat: Zu keinem Zeitpunkt in der Pandemie wussten Behörden oder Forschende, wie viele Menschen in Deutschland gerade infiziert waren.

Deutsche Wissenschaftler haben öffentlich und in Gesprächen mit der Bundesregierung immer wieder auf das Problem hingewiesen – und für das britische Modell als Lösung geworben. "Wir hätten dringend eine Zufallsstichprobe gebraucht", sagt Stefan Scholz. "Damit ließe sich das Infektionsgeschehen viel besser einschätzen."

Auch André Karch hat sich für den Aufbau einer Zufallsstichprobe eingesetzt. "Wir müssten jetzt die Vorbereitungen treffen, damit wir in der nächsten Pandemie eine solche Studie zügig aufbauen können", sagt der Chef der Klinischen Epidemiologie an der Uni Münster. Man müsse dazu nur einen verhältnismäßig niedrigen Betrag pro Jahr investieren, "dann könnten wir innerhalb von ein bis zwei Wochen handlungsfähig sein". Inzwischen hat Karch trotz Initiativen des Robert Koch-Instituts und des Netzwerks Universitätsmedizin Zweifel, dass sich in diese Richtung etwas bewegt.

Die Wissenschaftler haben sich angewöhnt, bescheidener zu denken. Sie formulieren ihre Wünsche anders als noch vor einem oder zwei Jahren – heruntergekocht auf das, was ihnen nach der Erfahrung dieser Jahre in der deutschen Realität machbar erscheint. Karch überlegt, ob sich statt der großen, bundesweiten Zufallsstichprobe nicht die vorhandenen regionalen Studien besser vernetzen ließen, wie es im Rahmen der Immunebridge-Studie 2022 gelungen ist. Ein umfassendes Lagebild ließe sich damit zwar nicht zwingend zeichnen, aber es wäre ein Anfang. Man könnte dabei auch die schon existierende NAKO Gesundheitsstudie (ehemals: Nationale Kohorte) besser einbinden, bei der sich 200.000 Freiwillige über Jahrzehnte untersuchen lassen, um Volkskrankheiten wie Krebs und Diabetes zu erforschen. Doch die Studie unterliegt strengen Rahmenbedingungen, nicht zuletzt im Bereich des Datenschutzes. "In der Theorie ist die NAKO-Studie sehr gut geeignet, in der Praxis kann sie aufgrund ihrer breiten Ausrichtung aktuell nicht alle Aspekte so detailliert wie nötig abbilden", sagt Karch.

48 Kläranlagen untersuchen derzeit ihr Abwasser auf Sars-CoV-2.

Vielversprechend beim Monitoring könnte die Erregersuche in Klärwerken sein. "Abwasserdaten sind schnell verfügbar, sie sind anonym und bilden in manchen Städten das Infektionsgeschehen erstaunlich gut ab", sagt Viola Priesemann vom Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. Doch nicht überall sei die Datenqualität brauchbar. Ein Beispiel: Wenn es heftig regnet, sind die Messergebnisse am nächsten Morgen mitunter verfälscht. Und das Abwassermonitoring gibt es bisher nur in Form von Modellprojekten in einzelnen Städten, einheitliche Standards fehlen.

Kaum etablierte Strukturen zur Datenauswertung

Besonders drastisch und folgenreich zeigte sich Deutschlands Datenmangel immer dann in der Pandemie, wenn neue Virusvarianten im Anmarsch waren. Damit Forschende diese Veränderungen im Erbgut des Virus erkennen und untersuchen können, müssen die Labore ausreichend viele Proben sequenzieren, also das Erbgut der Viren entschlüsseln. Deutschland hat zu dieser Forschung kaum etwas beigetragen – und musste sich auf die Daten stützen, die Briten, Dänen und andere erhoben haben. Wäre das Monitoring überall in Europa so schwach gewesen wie in Deutschland, wäre man weitgehend ahnungslos in manche Infektionswelle gelaufen.

2,5 Millionen PCR-Tests pro Woche haben die Labore in Deutschland zu Hochzeiten der Pandemie ausgewertet.

Mit dem Bereitstellen von Daten ist es aber nicht getan. Sie müssen ausgewertet, die Erkenntnisse dann an die Politik vermittelt und in die Öffentlichkeit getragen werden. Auch dafür gibt es in Deutschland kaum etablierte Strukturen.

Der ehemalige RKI-Forscher Stefan Scholz arbeitet inzwischen an der Uni Halle und koordiniert von dort aus ein bundesweites Netzwerk von Infektionsmodellierern. Er leistet Aufbauarbeit, denn die Infektionsepidemiologie hat in Deutschland keine Tradition, es gibt kaum bewährte Strukturen. Viele der Forschenden, die mit ihren Prognosen und Modellen in Talkshows saßen und die Bundesregierung beraten haben, widmen sich eigentlich ganz anderen Themen. Die Physikerin Viola Priesemann etwa forscht am Max-Planck-Institut in Göttingen vor allem zur Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn; der Informatiker Kai Nagel, der in der Pandemie auch modelliert hat, beschäftigt sich an der TU Berlin mit Verkehrssystemen.

Für ihre Publikationen zum Coronavirus haben die Teams von Priesemann und Nagel viel Anerkennung erhalten. Ihnen kam bei ihrer Arbeit zugute, dass dessen Ausbreitung ähnlichen mathematischen Gesetzen folgt wie das Zucken von Nervenzellen oder das Fließen des Straßenverkehrs. Trotzdem waren sie Quereinsteiger und hatten vor der Pandemie keine Erfahrung mit Infektionskrankheiten. Auch ihre Forschungsförderung erhielten sie oft zweckbestimmt für ganz andere Themen. Und denen müssen sie sich jetzt zwangsläufig wieder widmen. "Wir brauchen eine unabhängige Grundfinanzierung", sagt Priesemann. "Dann können wir unsere Forschung jederzeit von einem Tag auf den anderen umdrehen. Das geht mit projektgebundenen Drittmitteln nicht."

Mit dem Modellierer-Netzwerk, das Scholz aufbaut und dem auch die Gruppen von Priesemann und Nagel angehören, soll nun eine Professionalisierung stattfinden, der Austausch verstetigt werden. Gemeinsam möchte man regelmäßige Konferenzen und eine systematische Ausbildung in Epidemiologie etablieren. Vielleicht gelingt es dem Verbund ja sogar, in der Gesellschaft mehr Verständnis für Modelle und Prognosen zu schaffen – für das, was sie leisten können und was nicht.

Als Angela Merkel noch im Kanzleramt saß, waren in der Ministerpräsidentenkonferenz immer wieder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Gast. Wer warum eingeladen wurde, war für die Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar. Olaf Scholz berief zu Beginn seiner Amtszeit den Corona-Expertenrat, dessen Zusammensetzung jeder nachlesen konnte und der seine Empfehlungen auf der Homepage der Regierung veröffentlichte. Die wissenschaftliche Politikberatung hat das Gremium wesentlich transparenter und verbindlicher gemacht. Doch der Expertenrat hat sich im April aufgelöst. Ersatz gibt es nicht: "Man hat es bislang versäumt, ein dauerhaftes Gremium für die wissenschaftliche Beratung in Krisen aufzubauen", sagt André Karch.

Als Vorbild dient hier wieder Großbritannien. Dort entstand als Reaktion auf einen Rinderwahnsinn-Ausbruch die Scientific Advisory Group for Emergencies (Sage), die seither die Regierung bei Seuchen, aber auch nach Naturkatastrophen berät. "Eine Struktur mit solch einem Gremium hilft, zwischen Erkenntnis und Interpretation zu trennen", sagt Sebastian Funk, der an Sage-Sitzungen teilgenommen hat. "Sage konzentriert sich auf das Zusammenstellen der wissenschaftlichen Erkenntnisse und verzichtet weitgehend auf politische Empfehlungen." Auf politische Maßnahmen könne man sich in der Gruppe ohnehin häufig nicht einigen – wohl aber auf die zugrunde liegenden Fakten.

Eines darf man beim Blick über den Ärmelkanal aber nicht vergessen: Gemessen an der Einwohnerzahl, sind im Vereinigten Königreich deutlich mehr Menschen an Covid-19 gestorben als in Deutschland. Gute Daten und wissenschaftliche Beratung sind nicht alles – es braucht auch Politiker und Bürgerinnen, die daraus die richtigen Entscheidungen für den Alltag ableiten.

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