Berlin. Am Jüdischen Krankenhaus verlangt das Personal den gleichen Freizeit-Ausgleich für stressige Schichten wie bei Charité und Vivantes.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich auch das Pflege- und sonstige Personal der anderen Krankenhäuser zu Wort melden würde: Nachdem die Belegschaften 2021 bei der Universitätsklinik Charité und einige Monate später beim kommunalen Klinikkonzern Vivantes so genannte Entlastungstarifverträge erkämpft hatten, springt die von der Gewerkschaft Verdi geschickt angetriebene Welle nun auch auf die nicht öffentlichen Krankenhäuser der Stadt über.

Auch dort wollen die Mitarbeitenden feste Regeln für den Ausgleich für besonders stressige und unterbesetzte Schichten durchsetzen. Zudem soll das Management gezwungen werden, bei Unterbesetzung Betten frei zu lassen oder Behandlungen auszusetzen, um das Personal nicht über die Maßen zu belasten. Das Jüdische Krankenhaus in Wedding macht den Anfang in einer absehbaren Reihe von Konflikten um einen „Entlastungstarifvertrag“ nach dem Vorbild der öffentlichen Häuser.

Betriebsrat berichtet: „Hohe Krankenstände, mehr Teilzeitanträge, stärkere Fluktuation“

„Die Belastung ist zunehmend. Es gibt zwar einen Personalaufbau, aber gleichzeitig hohe Krankenstände, mehr Teilzeitanträge und stärkere Fluktuation“, schildert der Betriebsratsvorsitzende Daniel Reuter die Lage in dem Haus mit 840 Mitarbeitern und knapp 400 Betten. „Für eine ausgefallene Fachkraft kommen Azubis oder Praktikanten auf die Stationen.“

Der Betriebsrat kennt die Situation anderswo, weil er als Leasingkraft ein paar Schichten die Wochen meist bei Vivantes Patientinnen und Patienten pflegt. „Ich sehe, dass es besser geht.“ Vivantes und die Charité haben ihre Pflegeteams zuletzt als Konsequenz aus ihren Entlastungstarifverträgen aufgestockt.

Bei Vivantes und Charité hat sich durch die Entlastungstarife die Lage verbessert

Noch nicht überall laufe es schon wie gewünscht, heißt es von Verdi, aber die Lage habe sich verbessert. Denn das Management schneide sich ins eigene Fleisch, wenn es Pflegekräfte zu stark beanspruche, weil diese dann später wegen des vorgeschriebenen Freizeitausgleichs fehlten. Zudem würden konsequent Kapazitäten vom Netz genommen, wenn nicht genügend Personal vorhanden sei, um diese auch zu besetzen. Finanziell sollte der Einsatz zusätzlicher Pflegekräfte für die meisten Kliniken verkraftbar sein, meinen die Gewerkschafter, weil die Pflegekosten seit einiger Zeit voll finanziert und nicht mehr über die Fallpauschalen abgerechnet werden.

Gregor Engel ist Pfleger in der Psychiatrie im Jüdischen Krankenhaus. Er berichtet, Pflegekräfte aus der Psychiatrie würden von anderen Stationen angefragt. „Dort müssen sie alleine Dinge tun, die sie oft seit der Ausbildung nicht mehr gemacht haben. Eine Einarbeitung findet nicht statt“, berichtet Engel. Dabei habe man oft nicht genügend Pflegepersonal in der Psychiatrie, um auf schwierige Patienten deeskalierend zu wirken und mal längere Gespräche zu führen.

Ausgleich für belastete Schichten macht Vivantes und Charité als Arbeitgeber attraktiver

Wie es bei anderen potenziellen Arbeitgebern aussieht, wissen die gefragten Fachkräfte längst. „Ich habe mit Kollegen von Charité und Vivantes gesprochen. Die haben an vielen Stellen Personal aufgebaut, oder es gibt Erholung und Ausgleich für besonders belastete Schichten. Das macht sie als Arbeitgeber attraktiver“, so der Pfleger.

Auch die Fachkräfte, die die medizinischen Apparate bedienen und damit das meiste Geld für das Krankenhaus reinholen, stehen unter Druck. Alexandra Schüler arbeitet seit elf Jahren an den Herzkathetern: „Viele gehen schon nach einem Jahr in Teilzeit oder verlassen das Haus, weil der Stress so groß ist.“ Bewerber fragten sie, warum sie denn hier arbeiten sollten, wenn es woanders bessere Bedingungen gebe. Auch sie fragt sich das oft genug: „Ich hatte schon drei- oder viermal meine Kündigung im Anschlag. Mich hält nur das familiäre Umfeld hier“, sagt Schüler.

Viele Fachkräfte bleiben nur wegen familiärer Atmosphäre im Jüdischen Krankenhaus

Besonders die Rufbereitschaft sei belastend. „Wenn etwas ansteht, arbeite ich manchmal bis zum frühen Morgen und muss dann gleich wieder in die Frühschicht“, berichtet die Medizinische Fachangestellte: „Manchmal arbeite ich zwölf Tage durch, ohne einen freien Tag.“ Sie hat beobachtet, dass der Betrieb der Herzkatheter von vorneherein mit zu wenig Personal besetzt werde. Mit einem Entlastungstarifvertrag werde die Geschäftsführung dann gezwungen, in solchen Fällen das Angebot abzumelden.

Bei Verdi geht man davon aus, dass bald weitere Kliniken den Kollegen im Jüdischen Krankenhaus folgen werden. „Ich hoffe, dass sich unsere Bewegung aus unserem kleinen Haus auf andere Krankenhäuser überträgt“, sagte Betriebsratschef Reuter.