Ausuferndes Gesundheitswesen :
Arzneimittelausgaben erreichen Rekord von 53 Milliarden Euro

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Während die deutsche Wirtschaft seit 2013 um 38 Prozent gewachsen ist, beziffert das Wido den Anstieg der Me­dikamentenkosten auf 88 Prozent.
Neuer Knatsch mit der Pharmabranche: Die Krankenkassen bemängeln, sie hätten seit 2012 16,6 Milliarden Euro für Arzneimittel ohne jeglichen Zusatznutzen aufbringen müssen.

Die Unstimmigkeiten zwischen Krankenkassen und Pharmaherstellern zur Höhe der Arzneimittelvergütung schaukeln sich hoch. Neue Zahlen belegten, dass die Industrie trotz aller Unkenrufe stattliche Umsätze erziele, teilte der AOK-Bundesverband mit. „Kein Wunder, dass Pharmaunternehmen hohe Profite einfahren, da sie hierzulande weiterhin die höchsten Preise in ganz Europa verlangen können“, sagte der Vizeverbandsvorsitzende Jens Martin Hoyer in Berlin. „Das Lamento über schlechte Rahmenbedingungen auf dem deutschen Markt ist daher schwer verständlich.“

Eigentlich habe Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mit dem Finanzstabilisierungsgesetz zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) den „ungeminderten Preisanstieg“ von Medikamenten bremsen wollen. Dieses Vorgehen funktionierte nach Hoyers Worten aber nicht, im Gegenteil: Als sich herausstellte, dass viele Präparate knapp wurden, wollte der Bund Anreize setzen, mehr zu produzieren und die Herstellung nach Europa zurückzuholen. Das Gesetz zur Bekämpfung von Liefer­engpässen habe „wirksame Preissteuerungsmechanismen sogar noch aufgeweicht“, beklagte der Verbandsvorstand.

Seiner Ansicht nach dürfen die Kosten nicht weiter aus dem Ruder laufen. Deshalb müsse der von 7 auf 12 Prozent erhöhte Herstellerrabatt über das Jahr 2023 hinaus verlängert werden. Zugleich sollte man das Preismoratorium 2024 nicht, wie bisher vorgesehen, um die Inflationsrate anheben. Vor allem aber gelte es, die Mehrwertsteuer auf Medikamente zu senken und die Position der GKV in den Verhandlungen um die Erstattungsbeträge zu stärken. Statt unkontrollierter Startpreise müsse es an­gemessene Interimspreise geben.

Verband fordert stabilen und verlässlichen Marktzugang

Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) wies die Kritik zurück. „Firmenumsätze und Unternehmensprofite werden normalerweise von Wirtschaftsprüfern bewertet, und nicht von Krankenkassen“, sagte Verbandspräsident Han Steutel der F.A.Z. Bei den Arzneimittelausgaben gebe es „keine Sprünge, die eine Politikintervention zulasten der Pharmaindustrie rechtfer­tigen würden“. Steutel appellierte an die Politik, einen „stabilen und verlässlichen Marktzugang“ zu garantieren: „Ohne den ist der Standort Deutschland schlichtweg nicht attraktiv, und damit gefährden wir die Versorgung mit innovativen Medikamenten.“

Hoyers Kritik bezog sich auf neue Da­ten des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido). Demnach sind die Nettoausgaben der Kassen für Arzneimittel 2022 auf einen Rekord von 52,9 Mil­liarden Euro gestiegen. Das waren rund 18 Prozent der GKV-Gesamtausgaben. Traditionell ist der Kostenblock der zweitgrößte nach den Aufwendungen für die stationäre Behandlung – der etwa ein Drittel ausmacht –, aber noch vor der ambulanten Behandlung mit rund 17 Prozent.

Während die deutsche Wirtschaft seit 2013 um 38 Prozent gewachsen ist, beziffert das Wido den Anstieg der Me­dikamentenkosten auf 88 Prozent. Für patentierte Arzneien habe er sogar 100 Prozent auf 27,8 Milliarden Euro betragen. Dabei seien diese von den Mengen her von sinkender Bedeutung: Sie machten 2022 nur 6,8 Prozent der verordneten Tagesdosen aus, 30 Prozent weniger als 2013. Darin zeige sich, „dass patentierte Arzneimittel immer mehr kosten, jedoch gleichzeitig immer weniger zur Versorgung beitragen“, sagte Wido-Geschäftsführer Helmut Schröder. Die seit 2011 geltenden nachgelagerten Erstattungsverhandlungen hätten „ganz offensichtlich nur begrenzten Einfluss auf die Preisgestaltung der Hersteller“, sagte Schröder. Er bezog sich dabei auf das damals eingeführte Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz AMNOG zur Preisregulierung von Medikamenten mit neu­en Wirkstoffen.

Zusatznutzen muss nachgewiesen werden

Darin ist geregelt, dass Pharmaunternehmen nach Markteinführung für ei­nen begrenzten Zeitraum den von ihnen verlangten Preis gezahlt bekommen. Dass sie parallel dazu aber dem zuständigen Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWiG sowie dem Gemeinsamen Bundesausschuss der Selbstverwaltung einen Zusatznutzen nachweisen müssen. Diesem Nutzen entsprechend tritt man dann in Preisverhandlungen ein, an deren Ende ein Erstattungsbetrag steht, der zumeist weit unter dem Einführungspreis liegt.

Das Verfahren bedeutet aber auch, dass Wirkstoffe eine Zeit lang auf den Markt kommen und bezahlt werden, die im Vergleich zu schon vorhandenen Therapien keinen Zusatznutzen aufweisen. Nach Schröder Worten war das bis 2021 in fast 62 Prozent der Patientengruppen der Fall. Seit 2012 habe die GKV daher 16,6 Milliarden Euro „für Arzneimittel ohne jeglichen Zusatznutzen aufbringen müssen“.