"Niemand sieht einem Krankenhaus an, ob es eine Dorfklitsche ist" – Seite 1

Der Gesundheitsökonom und Versorgungsforscher Reinhard Busse hat an den Plänen zu Karl Lauterbachs (SPD) Krankenhausreform mitgearbeitet. Hier erklärt er, was Kritiker daran noch nicht verstanden haben – und wie sich die Versorgung für Patientinnen und Patienten verbessern ließe. 

ZEIT ONLINE: Herr Busse, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach warnt vor Klinikschließungen und auch Experten sagen: Kliniken werden schließen, ob kontrolliert, mit einer Reform oder unkontrolliert durch Insolvenzen. Viele Menschen haben Angst vor einer schlechteren Versorgung. Ist die Sorge berechtigt?  

ist Mediziner, Professor für Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin und Co-Direktor des European Observatory on Health Systems and Policies. © TU Berlin

Reinhard Busse: Nein. Wenn die Reform kommt, wird die Versorgung besser. Das muss man klar sagen. Wir haben einfach zu viele Krankenhäuser, und viele Menschen kommen unnötig ins Krankenhaus, die ambulant behandelt werden könnten. Das bindet unnötig Personal und verschärft die Personalknappheit. Und wer zu Recht ins Krankenhaus kommt, geht oft ins falsche.

ZEIT ONLINE: Viele Krankenhausbetreiber sagen unisono mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft, dass die Reform zu spät komme. Bis sie in Kraft sei, hätten viele Häuser wegen ihrer Finanzierungsprobleme bereits dichtgemacht. 

Busse: Aber genau die Akteure, die jetzt sagen, die Reform hätte früher kommen müssen, waren immer dagegen. Die müssen sich an die eigene Nase fassen und erklären, warum sie das so lange verhindert haben.

ZEIT ONLINE: Müsste die Politik nicht auch mehr Geld in die Hand nehmen, um die Finanznöte der Kliniken abzufedern?

Busse: Die Krankenhäuser haben in den vergangenen Jahren viel Geld bekommen, da kann die Antwort nicht lauten: Sie brauchen noch mehr Geld.

ZEIT ONLINE: Aber selbst aus dem Bundesgesundheitsministerium heißt es, viele Kliniken seien insolvenzgefährdet.

Busse: Das sind sie. Während der Corona-Zeit sind viele Patienten und Ärzte etwas abgekommen von der Haltung: besser mal ins Krankenhaus, das kann nicht schaden. Dadurch sind die Patientenzahlen gesunken. Das verlorene Patientenvolumen entspricht den kompletten Patientenzahlen der kleineren Krankenhäuser, die 50 Prozent der Häuser ausmachen. Rein rechnerisch könnten von den 1.700 Krankenhausstandorten in Deutschland die 850 kleineren Kliniken schließen, dann hätten die anderen 850 wieder das Patientenvolumen von vor der Pandemie. Das Problem ist also nicht das fehlende Geld, sondern dass die Größe des Sektors und der Bedarf der Patienten nicht mehr zusammenpassen.

ZEIT ONLINE: Wollen Sie sagen: Dann lassen wir eben ein paar Kliniken pleitegehen?  

Busse: Es kann nicht die Lösung sein, allen 1.700 Standorten mit der Gießkanne viel Geld zu geben, um alle am Leben zu halten, bis wir uns entschieden haben, welche wir brauchen. Umgekehrt möchte ich natürlich nicht, dass Kliniken, die wir brauchen, aufhören zu existieren. Deswegen muss die Planung zügig gehen. Es muss schnell feststehen, nach welchen Kriterien sich entscheidet, welche Krankenhäuser für was gebraucht werden. Es gibt einen großen Unterschied zwischen der heutigen Kliniklandschaft und der, die wir am Ende brauchen.

ZEIT ONLINE: Hinter manchen Krankenhaus-Gesellschaften stehen Investmentfonds, die mit unserer Gesundheit viel Geld verdienen wollen. Sind zu viele Kliniken in private Hand gewandert?

Busse: Umgekehrte Frage: Hat es Sinn, öffentliche Krankenhäuser mit Steuergeld zu retten, weil sie schlecht gemanagt sind? Das Problem ist nicht, wem die Krankenhäuser gehören, sondern dass die Krankenhausstruktur sehr wenig mit moderner Medizin, unserem Bedarf und den Qualitätsanforderungen zu tun hat. Es wäre nicht damit getan, private Krankenhäuser abzuschaffen und alles wieder den Landräten für die öffentlichen und den Bischöfen für die katholischen Krankenhäuser zu überlassen.

ZEIT ONLINE: Nach der jüngsten Verhandlungsrunde zwischen Bund und Ländern sprach Lauterbach von einem Durchbruch. Es gab aber keine Einigung darüber, ob Krankenhäuser künftig in verschiedene Level eingeteilt werden. Die Länder sind dagegen. Die Idee zur Level-Teilung haben Sie mit erarbeitet. Was wäre so wichtig daran? 

Busse: Dahinter steht erstens die Idee, systemrelevante Häuser zu identifizieren, die wir unbedingt erhalten müssen. Zweitens wollen wir so die Qualität sichern und transparent machen. Wenn es verschiedene Stufen gibt, können Sie darauf vertrauen, dass je nach Level eine gewisse Mindestqualität vorhanden ist. Bisher sieht niemand einem Krankenhaus an, ob es eine Dorfklitsche ist oder ein Maximalversorger. Die Leute wissen gar nicht, dass in vielen Krankenhäusern außerhalb der Kernarbeitszeiten keine Fachärzte anwesend sind. Die Stufeneinteilung würde das ändern. Da wüsste man: In einem Level-drei-Krankenhaus stehen Fachärzte rund um die Uhr bereit, da muss nicht erst die Oberärztin im Notfall angerufen werden. Und wenn ich mit einem Herzinfarkt in ein Level-zwei-Krankenhaus komme, weiß ich: Da gibt es mindestens einen Linksherzkatheter. Ich weiß auch, die haben auf jeden Fall eine Schlaganfall-Einheit. 

Diese Qualität gibt es heute nicht überall. Viele Landkreise haben kein einziges Haus auf dem entsprechenden Niveau.

ZEIT ONLINE: Was Patientinnen und Patienten vermutlich kaum bewusst ist.

Busse: Genau, sie – und oft auch die Politiker – denken, die drei Häuser in ihrem Kreis sind alles richtige Krankenhäuser, zu denen sie mit allen Krankheitsfällen hingehen können. 

Wie Schlaganfall-Patienten ins richtige Krankenhaus kommen

ZEIT ONLINE: Trotzdem fange ich mit einem Herzinfarkt oder Schlaganfall ja nicht an, mir auf der Deutschlandkarte die Level-Bewertung verschiedener Krankenhäuser anzuschauen. Da will ich schnell zum nächsten Arzt.

Busse: Das entscheidende Kriterium in unserem Konzept ist auch nicht die Transparenz für Patienten, sondern die Transparenz für das Gesamtsystem. Wer einen Schlaganfall hat, soll sich nicht überlegen müssen, in welches Krankenhaus er geht. Das System soll so gepolt sein, dass man mit einem Schlaganfall im richtigen Krankenhaus landet. Da sagen die Rettungsdienste: Das machen wir doch sowieso schon. Aber in den Landkreisen, wo es zurzeit keine Schlaganfall-Einheit gibt, können sie das eben nicht machen. 

ZEIT ONLINE: Das heißt, wenn es Level gäbe, könnte man Regionen identifizieren, in denen heute keine Schlaganfall-Station in Reichweite ist?

Busse: Genau. Das ist das Entscheidende, was auch die Politiker zum Teil noch nicht richtig verstanden haben: Weniger, aber besser ausgestattete Krankenhäuser verbessern die Versorgung. Wir haben gesagt, dass es Krankenhäuser geben muss, die alle wesentlichen Anlässe bedienen können. Level zwei heißt: Ich kann da mit Herzinfarkt oder Schlaganfall hin oder ein Kind zur Welt bringen. Das ist es, was die Menschen ja von einem Krankenhaus erwarten. Aber das können eben heute gar nicht alle leisten.

ZEIT ONLINE: Neben den Levels gibt es in Ihrem Reformvorschlag auch Leistungsgruppen. Auf die haben sich Bund und Länder im Grundsatz geeinigt. Was genau ist eine Leistungsgruppe?

Busse: Level und Leistungsgruppen hängen zusammen. Letztere sind die kleineren Einheiten, die das beschreiben, was Krankenhäuser vorhalten müssen, um bestimmte Krankheiten behandeln zu dürfen. Wer Frauen mit Brustkrebs versorgen will, braucht ein zertifiziertes Brustkrebszentrum, um die entsprechende Leistungsgruppe zu bekommen. Da brauche ich nicht nur Spezialisten, die sich ausschließlich mit Brustkrebs auskennen, sondern auch eine Radiologie, eine Strahlentherapie und einen psychologisch-psychiatrischen Dienst. So kann eine multidisziplinäre Versorgung sichergestellt werden. Ob ein Krankenhaus das sicherstellen kann, hängt auch vom Level ab – und umgekehrt bestimmt das Leistungsgruppen-Portfolio auch das Level.  

ZEIT ONLINE: Klinikbetreiber kritisieren, auch deshalb sei die Level-Einteilung nicht durchdacht. Da müsste man gut funktionierende Häuser zerschlagen, nur damit sie in das eine oder andere Level rutschen. Mir sagte ein Klinikmanager: Ich habe in manchen Häusern eine exzellente Gynäkologie, aber keine Stroke-Unit für Schlaganfall-Patienten. Damit kann ich nicht Level zwei sein und muss deshalb entweder die Gynäkologie schließen oder eine Stroke-Unit aufmachen. Obwohl Frauen während der Geburt eigentlich nie einen Schlaganfall bekommen.

Busse: Wenn Kliniken jetzt sagen: Ich werde gezwungen, noch andere Abteilungen aufzumachen, dann kann ich nur sagen: Ja, genau – damit die Gesamtversorgung besser wird. Und wenn Manager so etwas erzählen, muss man sie fragen: Haben sie wirklich eine so großartige Gynäkologie? Wie viele Fallzahlen haben die? Gibt es da auch eine Pädiatrie? Können die Frauen also darauf setzen, dass ein Kinderarzt bei Geburt anwesend ist? Erfüllen die tatsächlich die Qualitätsanforderungen an eine Geburtshilfe? Wissen Sie: Wir haben 600 Geburtskliniken in Deutschland, und nur 270 davon sind in Häusern, die auch eine Kinderklinik haben. Das ist international eigentlich Standard. Den erfüllen die anderen 330 Häuser also nicht. Kein Wunder, dass selbst bei Frühgeburten heute längst nicht in allen Häusern immer Kinderärzte anwesend sind.

ZEIT ONLINE: Lauterbach will nun so oder so mehr Transparenz durchsetzen und offenbar Qualitätsdaten zu den Krankenhäusern öffentlich machen. Kliniken dokumentieren ja bereits heute bestimmte Eingriffe und wie die Behandlung verlaufen ist. Diese Daten werden seit vielen Jahren gesammelt. Warum kommt man erst jetzt auf die Idee, die Qualitätsunterschiede der Kliniken, die in diesen Daten stecken, öffentlich zu machen? 

Busse: Die Idee ist schon älter, aber bisher ist weniger passiert als anfangs angedacht. Was wie öffentlich dargestellt wird, entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss und da sitzt auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft mit drin, die die Kliniken vertritt. Die hatten bisher kein übermäßiges Interesse an mehr Transparenz. Und die Politik, sowohl im Bund als auch in den Ländern, war in der Vergangenheit häufig auf Seiten der Leistungserbringer.

ZEIT ONLINE: Der Gesundheitsminister sagt, viele kleine Kliniken überleben nur deshalb, weil sie all die Menschen behandeln, die von den Qualitätsunterschieden nichts wissen. Das würde ja bedeuten, man weiß, welche Kliniken schlecht abschneiden, macht diese Information aber nicht öffentlich. 

Busse: Man darf sich das nicht so vorstellen, dass man anhand dieser Daten herunterbrechen kann, wie gut das einzelne Krankenhaus bei jeder einzelnen Behandlung ist. Wenn ein Krankenhaus nur drei Frauen mit Brustkrebs im Jahr behandelt, dann ist wahrscheinlich nur eine oder keine verstorben. Bei so geringen Zahlen kann ich nie ein statistisch signifikantes Ergebnis über die Qualität der Klinik herauskriegen. Man weiß allerdings, dass Krankenhäuser mit nur drei Fällen eine Erkrankung im Schnitt schlecht behandeln, dass dort die Sterblichkeit deutlich höher ist als anderswo. Zum Teil gibt es dramatische Unterschiede, etwa beim Bauchspeicheldrüsenkrebs. Da unterscheidet sich die akute Sterblichkeit um den Faktor zwei: Wenn ich in ein Haus gehe, das diesen Krebs selten behandelt, sterben zwölf Prozent der Patienten während des Aufenthaltes, in einem Haus, das viele dieser Fälle behandelt, dagegen nur sechs Prozent. Bei Schlaganfällen sind es mit Stroke-Unit ungefähr 24 Prozent, die innerhalb eines Jahres versterben, ohne so eine Einheit sterben dagegen 31 Prozent.

ZEIT ONLINE: Aber das hätte man ja schon längst öffentlich machen können.

Busse: Ja, natürlich hätte man schon längst verhindern müssen, dass Schlaganfall-Patienten in Häusern ohne Schlaganfall-Einheit behandelt werden. Aber wer war genau dagegen? Die, die jetzt schreien, man hätte eine Reform schon früher machen müssen. Viele von denen, die jetzt sagen, die Krankenhäuser wären gegen die Wand gefahren, saßen ja selbst am Steuer. 

ZEIT ONLINE: Wie könnte man sich so eine transparente Übersicht vorstellen? Wäre das eine Art Karte, auf der man die Kliniken einzeln anklicken und dann die Qualitätsmerkmale sehen kann?

Busse: Man könnte sich das ähnlich wie die Weiße Liste vorstellen, wo Patienten ja schon heute Informationen darüber finden können, was unterschiedliche Krankenhäuser anbieten und wie häufig bestimmte Patienten dort behandelt werden. Wir bräuchten ein öffentliches Portal, wo die Daten weiter verdichtet werden und man auch alle Krankenhäuser auf dem gleichen Level vergleichen kann. Zum Beispiel alle, die Brustkrebspatientinnen behandeln: Wie viele Fälle haben die jeweils? Wie viele Fachärztinnen gibt es wo, wie viele spezialisierte Pflegekräfte? Wie sind die Ergebnisse? Wie steht ein Haus im Vergleich zu anderen da? In Zukunft kann ich hoffentlich davon ausgehen, dass alle Häuser, die diese Patientinnen behandeln, ein zertifiziertes Brustkrebszentrum haben – derzeit bräuchte ich aber auch dringend diese Informationen, da viele ja nicht zertifiziert sind. 

ZEIT ONLINE: Der Gesundheitsminister will sich vor der Sommerpause mit den Ländern geeinigt haben. Die Länder wollen aber partout keine Level-Einteilung. Wie könnte ein Kompromiss aussehen? 

Busse: Je länger sich alles verzögert, desto mehr Krankenhäuser drohen insolvent zu gehen. Was den Ländern klar werden muss: Wenn die gleiche Summe Geld neu verteilt wird und die Anzahl der Krankenhäuser gleich bleibt, dann kann es am Ende nicht allen besser gehen. Die setzen immer noch drauf, dass es am Ende mehr Geld gibt. Wichtiger wäre jedoch eine konsensfähige Systematik, welche Häuser systemrelevant sind.

ZEIT ONLINE: Aber Ende Juni soll die Einigung stehen.

Busse: Die wird es auch geben, aber es sollte klar sein, dass es Grenzen gibt – und wenn der Konsens darunter läge, dann wäre keine Einigung besser als eine schlechte Einigung. Es nützt nichts, auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner eine Einigung zu erzielen, die das eigentliche Problem nicht anpackt. Hoffentlich muss nicht erst eine Universitätsklinik pleitegehen, damit sich die gedanklichen Blockaden lösen.