Kapitalinteressen und medizinische Versorgung: Frontalangriff auf das Gesundheitssystem

Immer mehr Finanzinvestoren sehen in der medizinischen Versorgung ein lukratives Geschäftsmodell. Beiträge von Versicherten fließen auf Aktionärskonten – zulasten der Patienten.

Praxen werden aufgekauft und zu größeren Einheiten zusammengefasst
Praxen werden aufgekauft und zu größeren Einheiten zusammengefasstPaulus Ponizak/Berliner Zeitung

Die niedergelassenen Ärzte streiken. Auch in Berlin bleiben viele Praxen zwischen den Feiertagen geschlossen. Das alte Jahr endet, wie das neue weitergehen dürfte: mit Protesten von Medizinern, Pflegekräften, Apothekern sowie von Trägern der Krankenhäuser und Heime.

Deutschlands Gesundheitswesen steht vor einem grundlegenden Umbau. Zum Teil tragen die Reformen dazu bei, die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angestoßen hat. Doch auch ohne sein Zutun vollzieht sich bereits seit geraumer Zeit ein schleichender Wandel des gesamten Systems, das immer stärker Kapitalinteressen unterworfen wird.

Betroffen sind zum Beispiel Kliniken. Lange sind Bund, Länder oder Kommunen ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen, in die Infrastruktur der Häuser zu investieren. Chronisch knappe Kassen zwangen zu einem ungesunden Sparkurs. Ungesund vor allem für die Patienten. Wo aber öffentliche Finanzen fehlen, ist der Weg frei für privates Kapital.

Betroffen ist längst auch die ambulante medizinische Versorgung. Die Zahl der Arztpraxen und Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), die in Besitz von Private-Equity-Gesellschaften übergehen, ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Systematisch erfasst werden solche Transaktionen nicht. Schätzungen zufolge besitzen Finanzkonzerne etwa 1400 bis 1500 Arzt- und Zahnarztpraxen in Deutschland. Das ist zwar bisher nur gut ein Prozent der Praxen, aber die Entwicklung geht extrem rasant voran.

Praxen werden aufgekauft und zu größeren Einheiten zusammengefasst

Zugute kommt den Investoren, dass sich das Selbstverständnis junger Ärzte wandelt: vom Freiberufler zum Angestellten mit geregelter Arbeitszeit.

„Buy and build“ lautet die branchenübliche Strategie. Praxen werden aufgekauft und zu größeren Einheiten zusammengefasst. Wer in Berlin zum Beispiel einen Termin beim Radiologen benötigt, wird an einer Kette namens Diagnostikum kaum vorbeikommen. Diese wurde vor Jahren zunächst an einen dänischen Investmentfonds veräußert, der sie nach einiger Zeit an ein schwedisches Unternehmen weiterreichte, das seinerseits neue Praxen integrierte. Das ist das Geschäftsmodell. Von bis zu 80 Prozent Wertzuwachs ist bei solchen Transaktionen die Rede.

Es begann mit der Augenheilkunde, nun bilden internationale Konsortien größere Einheiten vermehrt in der Orthopädie, der Urologie, der Gynäkologie, der Kardiologie. Patienten können nicht erkennen, ob die Praxis noch der vertrauten Frau Doktor oder einer Firma mit Gewinninteressen gehört. Auf dem Schild am Eingang und auf der Homepage fehlt meist ein solcher Hinweis. Ein öffentlich zugängliches Register gibt es nicht.

In das Blickfeld von Kapitalgesellschaften rücken inzwischen auch Pflegeheime. Das Interesse an Apotheken ist ebenfalls erkennbar, zumal sich die Branche im Umbruch befindet. Während die Zahl der Apotheken aus wirtschaftlichen Gründen kontinuierlich sinkt, könnten größere Ketten die Versorgungslücke schließen.

Weltweite Transaktionen im Wert von 100 Milliarden US-Dollar

Wie lukrativ der Markt ist, verdeutlichen Zahlen der Unternehmensberatung Bain & Company für 2022, die das finanzielle Volumen der Transaktionen im Gesundheitssektor weltweit auf bis zu 100 Milliarden US-Dollar schätzt. Einer Analyse aus den USA zufolge lag der Wert im Vorjahr sogar bei 200 Milliarden Dollar. Die Ergebnisse der Meta-Studie sind im British Medical Journal dokumentiert. Diskret behandelt die Branche derweil ihre Gewinnerwartungen. Kolportiert werden Zielwerte von zehn bis zwölf Prozent vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen.

Befürworter und Profiteure dieser Entwicklung heben die betriebswirtschaftliche Expertise der Finanzunternehmen hervor, die dem Gesundheitswesen zugutekommen würden. Größere Einheiten würden Synergien schaffen und Kosten senken. Dass diese Effekte den Patienten nützen, konnten die amerikanischen Gesundheitssoziologen nicht feststellen. Für ihre Meta-Studie hatten sie sich 55 Untersuchungen vorgenommen, unter anderem aus Deutschland.

Ein Gutachten im Auftrag der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern wiederum erbrachte, dass MVZ in der Hand von Finanzinvestoren 10,4 Prozent mehr Honorare abrechneten als Einzelpraxen. Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin treibt die Sorge um, dass die Basisversorgung leiden könnte und sich das Leistungsspektrum auf lukrative Bereiche eines Fachs verschiebt. Auf Leistungen, für die die Krankenkassen mehr zahlen, Operationen etwa.

Therapien müssen medizinisch begründet sein, die Entscheidung darüber muss Ärzten überlassen bleiben und nicht Finanzvorständen. Das Geld muss denjenigen zugutekommen, die es aufbringen, den Versicherten und Steuerzahlern. Das Konzept einer Solidargemeinschaft wird pervertiert, wenn Beiträge der Allgemeinheit in Renditen Einzelner umgewandelt werden. Es gibt keinen Grund, diese Entwicklung ungezügelt weiterlaufen zu lassen. Es sei denn, man plant einen Frontalangriff auf das System.