Die 11. Version der Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11) hat die belastungsbezogenen Störungen als neue Gruppe von psychischen Störungen eingeführt. Diese Störungsgruppe beinhaltet u. a. die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), die komplexe PTBS (KPTBS), die anhaltende Trauerstörung und die Anpassungsstörung. Im Vergleich zur bisherigen Ausgabe, der ICD-10, konnten diese Störungen sinnvoll revidiert oder mit einem spezifischen Störungsprofil neu eingeführt werden.

Einleitung

Nachdem die ICD-10 beinahe 30 Jahre durch Forscherinnen und Forscher sowie Klinikerinnen und Kliniker verwendet wurde, ist die 11. Version dieses Diagnosesystems, die ICD-11, seit 2022 international in Kraft. In diversen Ländern wird die Implementierung der ICD-11 aber noch etwas Zeit in Anspruch nehmen. Im Bereich der psychischen Störungen brachte die ICD-11 diverse Neuerungen zu verschiedenen psychischen Störungen. Eine dieser Neuerungen ist die Einführung der belastungsbezogenen Störungen als neue Diagnosegruppe (World Health Organization 2023). Darin enthalten sind die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), die Anpassungsstörung sowie neuerdings auch die anhaltende Trauerstörung und die komplexe PTBS (KPTBS; Maercker et al. 2023). Die Gruppe der belastungsbezogenen Störungen ist auch durch 2 Diagnosen im Kindesalter, die reaktive Bindungsstörung und die Bindungsstörung mit Enthemmung, gekennzeichnet; auf diese wird in diesem Beitrag nicht näher eingegangen. Die belastungsbezogenen Störungen im Erwachsenenalter sowie ihre Kodierungen in der ICD-11 und ICD-10 sind in Tab. 1 aufgeführt.

Tab. 1 Belastungsbezogene Störungen in der ICD-11 und ICD-10

In der ICD-10 waren einige der in Tab. 1 aufgelisteten Störungen noch in der Gruppe der „Neurotischen, belastungs- und somatoformen Störungen“ gelistet (World Health Organization 1993). In der ICD-11 wurden nicht nur die Störungsgruppen an und für sich, sondern auch die darunterliegenden diagnostischen Eigenschaften der einzelnen Störungen grundlegend revidiert. Die detaillierten Änderungen im Bereich der belastungsbezogenen Störungen sind nachfolgend aufgelistet.

Posttraumatische Belastungsstörung

Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS; „posttraumatic stress disorder“ [PTSD]) kann sich entwickeln, nachdem eine Person einem extrem bedrohlichen oder schrecklichen Ereignis oder einer Folge solcher Ereignisse ausgesetzt war (World Health Organization 2023). In der ICD-11 ist das Ereigniskriterium der PTBS also wie in der ICD-10 relativ kurz definiert. Beispiele für traumatische Ereignisse sind eine Vergewaltigung, häusliche Gewalt, ein bewaffneter Überfall oder ein schwerer Unfall. Die erste Symptomgruppe der PTBS nach ICD-11 ist das Wiedererleben in der Gegenwart in der Form von lebendigen intrusiven Erinnerungen bzw. Flashbacks (World Health Organization 2023). Das Wiedererleben kann über eine oder mehrere Sinnesmodalitäten erfolgen und wird typischerweise von starken Emotionen, insbesondere Angst oder Entsetzen, und starken körperlichen Empfindungen begleitet. Auch Albträume sind Teil des Wiedererlebens, wobei diese einen Bezug zur traumatischen Situation aufweisen müssen, um als Teil des Wiedererlebens geltend gemacht werden zu können. Die zweite Symptomgruppe der PTBS ist die Vermeidung von Erinnerungen, Aktivitäten, Situationen oder Personen, die mit dem traumatischen Ereignis assoziiert sind (World Health Organization 2023). Als mit Vermeidung assoziierte Merkmale der PTBS wurden in der ICD-10 noch weitere Symptome aufgelistet. Dazu gehörten das „numbing“ (deutsch: Betäubtsein), emotionale Abstumpfung, Unempfänglichkeit für die Umgebung oder Anhedonie (World Health Organization 1993). Diese Symptome werden in der ICD-11 als depressive Begleitsymptome eingestuft (Byllesby et al. 2016) und deshalb nicht als Teil der PTBS anerkannt. Die dritte Symptomgruppe ist die anhaltende Wahrnehmung einer erhöhten aktuellen Bedrohung (World Health Organization 2023). Darunter fallen z. B. übermäßige Schreckreaktionen oder eine erhöhte Wachsamkeit. In der ICD-10 wurde an dieser Stelle noch das Hyperarousal als korrespondierende Symptomgruppe aufgeführt, mit Einzelsymptomen wie z. B. Konzentrations- und Schlafschwierigkeiten oder erhöhter Reizbarkeit. In der ICD-11 wurden diese Symptome allerdings als für die PTBS zu unspezifisch eingestuft und deshalb nicht mehr zu den diagnostischen Merkmale gezählt (Brewin et al. 2017).

Wie bei allen belastungsbezogenen Störungen ist auch die PTBS durch eine Funktionsbeeinträchtigung charakterisiert (World Health Organization 2023). Dieses Merkmal wurde in der ICD-11 neu hinzugefügt und beschreibt, dass die PTBS zu Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen führt. Dies beinhaltet z. B. das Familienleben, die Ausübung des Berufs oder die sozialen Beziehungen. Wenn eine Funktionsfähigkeit aufrechterhalten wird, ist dies mit großen persönlichen Anstrengungen verbunden. Als Zeitkriterium wird in der ICD-11 festgehalten, dass die PTBS innerhalb von 3 Monaten nach dem traumatischen Ereignis auftritt. Allerdings wird auch explizit erwähnt, dass die Manifestation einer PTBS in manchen Fällen erst viele Jahre nach dem traumatischen Ereignis erfolgen kann (World Health Organization 2023).

Komplexe posttraumatische Belastungsstörung

Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS; „complex posttraumatic stress disorder“, CPTSD) gilt als neue ICD-11-Diagnose. Die Einführung dieses Störungsbildes beruht auf klinischen Beobachtungen und Forschungsergebnissen, die aufzeigen, dass die posttraumatischen Symptome und Reaktionen bei einigen Betroffenen deutlich über die klassischen PTBS-Merkmale hinausgehen (Brewin et al. 2017; Kazlauskas et al. 2018). Die KPTBS wird üblicherweise durch wiederholte oder anhaltende traumatische Ereignisse ausgelöst, denen Betroffene oft nur schwer oder gar nicht entkommen können (Eberle und Maercker 2023). Beispiele für solche Ereignisse sind Völkermord, Sklaverei, Folter, wiederholter sexueller Missbrauch oder anhaltende häusliche Gewalt. Auf der Symptomebene müssen zuerst alle diagnostischen Merkmale der PTBS vorliegen (World Health Organization 2023). Zusätzlich zur PTBS muss eine sog. Störung der Selbstorganisation vorhanden sein; diese setzt sich aus 3 Symptomgruppen zusammen (Bachem et al. 2021; Eberle und Maercker 2023). Betroffene leiden unter Emotionsregulationsproblemen, bei denen die Abstufung und Kontrolle einzelner Gefühlsausdrücke beeinträchtigt sind. Emotionale Ausbrüche und starke Erregbarkeit können daraus folgen, was oft auch von starkem Ärger begleitet wird. Die zweite Symptomgruppe der Störung der Selbstorganisation sind Selbstkonzeptveränderungen: Menschen mit einer KPTBS sind durch selbstherabsetzende Einstellungen charakterisiert und weisen nicht selten die Überzeugungen auf, ein beschädigtes Leben zu führen oder etwas im Leben etwas falsch gemacht zu haben (World Health Organization 2023). Starke sowie lang andauernde Schuld- und Schamgefühle sind häufig zu beobachten. Die dritte Symptomgruppe sind zwischenmenschliche Schwierigkeiten. Diese zeigen sich z. B. in der Form häufiger Streitigkeiten mit Mitmenschen, einer Anfälligkeit für überspannte Ansichten oder der Unfähigkeit, anderen Menschen zu vertrauen. Über diese diagnostischen Merkmale hinaus ist bei vielen Personen mit einer KPTBS auch eine erhöhte Neigung zu Dissoziationen zu verzeichnen (World Health Organization 2023).

Eine mit der KPTBS korrespondierende ICD-10-Diagnose ist die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, die sich bei den Persönlichkeitsstörungen finden lässt (World Health Organization 1993). Die Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung ist gekennzeichnet durch eine feindselige oder misstrauische Haltung gegenüber der Welt, sozialen Rückzug, Gefühle der Leere oder Hoffnungslosigkeit, chronische Gefühle der Nervosität und Entfremdung. Dieser Zustand muss über mindestens 2 Jahre bestehen, nachdem eine Person einer traumatischen Belastung ausgesetzt war, um die Diagnose stellen zu können (World Health Organization 1993). Mit zunehmenden Forschungsbemühungen wurde allerdings deutlich, dass der Zustand der Persönlichkeitsänderung nach einer Extrembelastung besser im Bereich der belastungsbezogenen Störungen angegliedert werden sollte, was schlussendlich in der Schaffung der KPTBS als neuer Diagnose mündete (Maercker et al. 2013, 2023).

Anhaltende Trauerstörung

Wie die KPTBS wurde auch die anhaltende Trauerstörung („prolonged grief disorder“) in die ICD-11 neu eingeführt (World Health Organization 2023). Im Gegensatz zu den anderen Störungen in der Gruppe der belastungsbezogenen Störungen ist die anhaltende Trauerstörung durch ein klar definiertes Ereigniskriterium gekennzeichnet: den Tod einer nahestehenden Person. Eine partnerschaftliche Trennung oder der Tod eines Tieres erfüllt dieses Ereigniskriterium nicht. Auf der Symptomebene ist die anhaltende Trauerstörung durch ein starkes Verlangen bzw. eine starke Sehnsucht nach der verstorbenen Person gekennzeichnet. Ebenso kann sich eine starke, gedankliche Beschäftigung mit der verstorbenen Person oder den Implikationen dieses Ereignisses einstellen, was auch als Präokkupation bezeichnet wird. Darüber hinaus ist die anhaltende Trauerstörung durch eine starke emotionale Belastung gekennzeichnet; diese kann sich z. B. in Form von Traurigkeit, Schuldgefühlen, Wut, Verleugnung, Schuldzuweisungen, Schwierigkeiten, den Tod zu akzeptieren, Hemmungen, eine positive Stimmung zu erleben, Schwierigkeiten, sich an sozialen oder anderen Aktivitäten zu beteiligen oder emotionale Gefühllosigkeit äußern (World Health Organization 2023).

Die ICD-11 hält fest, dass die anhaltende Trauerstörung frühstens 6 Monate nach dem Tod der nahestehenden Person diagnostiziert werden sollte (World Health Organization 2023). Dieses Kriterium ist allerdings stark von den kulturellen Normen der hinterbliebenen bzw. betroffenen Person abhängig. In manchen Kulturkreisen ist es üblich, dass eine Person nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen eine einjährige Trauerphase durchläuft. In diesem Fall würde die anhaltende Trauerstörung erst nach einem Jahr diagnostiziert werden. Ganz allgemein muss die Trauerreaktion deutlich über die kulturellen, sozialen oder religiösen Normen der betroffenen Person hinausgehen, um eine anhaltende Trauerstörung geltend machen zu können (World Health Organization 2023). Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass etwa 10 % der trauernden Personen eine Trauerreaktion aufweisen, die über ein normales Maß hinausgeht und als anhaltende Trauerstörung eingestuft wird (Lundorff et al. 2017). Für solche Personen wurde in der ICD-10 typischerweise auf die Diagnose einer Depression zurückgegriffen. Die Einführung der anhaltenden Trauerstörung als ICD-11-Diagnose hat deshalb den Vorteil, dass sie das Zustandsbild der Betroffenen spezifischer abbildet und auf dieser Basis auch maßgeschneiderte Behandlungsindikationen erlaubt (Maercker et al. 2023).

Anpassungsstörung

Die Anpassungsstörung („adjustment disorder“) wird gemäß ICD-11 durch ein belastendes Lebensereignis ausgelöst (World Health Organization 2023). Die Art des Ereignisses wird nicht näher erläutert, da potenziell jedes belastende Ereignis eine Anpassungsstörung nach sich ziehen kann und v. a. die individuelle Wahrnehmung und Verarbeitung eine Rolle dabei spielen, ob sich bei der betroffenen Person eine Psychopathologie manifestiert. Für die Anpassungsstörung typische Ereignisse sind ein ungewollter Arbeitsplatzverlust, eine partnerschaftliche Trennung oder eine schwere Krankheit. Auf der Symptomebene ist die Anpassungsstörung durch Präokkupation, d. h. ein gedankliches Verhaftetsein mit dem Ereignis oder dessen Implikation, gekennzeichnet. Darüber hinaus ist die Anpassungsstörung durch Anpassungsschwierigkeiten charakterisiert. Dies kann sich in Form von Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafproblemen oder einer Unfähigkeit, sich zu erholen, manifestieren. Auch eine erhöhte Tendenz zu Suizidgedanken oder suizidalen Handlungen kann bei der Anpassungsstörung beobachtet werden, was allerdings kein diagnostisches Merkmal darstellt. Die ICD-11 hält fest, dass die Anpassungsstörung nur bis zu 6 Monate nach dem belastenden Lebensereignis diagnostiziert werden kann. Belastende Ereignisse können allerdings auch einen anhaltenden Charakter aufweisen, wie dies etwa bei einer langjährigen Krankheit zu beobachten ist. Bei einem solchen anhaltenden Ereignis kann die Anpassungsstörung auch nach mehr als 6 Monaten diagnostiziert werden (World Health Organization 2023).

Für die ICD-11 wurde die Konzeptualisierung der Anpassungsstörung erheblich erneuert. In der ICD-10 waren unterschiedliche Erscheinungsformen der Anpassungsstörung definiert (World Health Organization 1993). Dies beinhaltete z. B. Erscheinungsformen mit gedrückter bzw. depressiver Stimmung, mit Angst oder Sorgen, mit dem Gefühl, nicht in der Lage zu sein, die aktuelle Situation zu bewältigen, mit einem gestörten Sozialverhalten oder mit einer eingeschränkten Fähigkeit bei der Bewältigung der täglichen Routine. Entsprechend dieser breiten Auslegung war die Anpassungsstörung in der ICD-10 durch diverse Subtypen gekennzeichnet (World Health Organization 1993). Diese Subtypen wurden jedoch als nichtvalide und klinisch nicht nützlich betrachtet (O’Donnell et al. 2019; Zelviene et al. 2017), weshalb sie aus der ICD-11-Konzeptualisierung entfernt wurden. Hierbei wurde klinisch nicht bestritten, dass sich Anpassungsstörungen durch die genannten Gefühle präsentieren können.

Diagnostische Erhebungsmethoden

Für die belastungsbezogenen Störungen wurden neue diagnostische Instrumente entwickelt, die die Störungsmerkmale gemäß ICD-11 berücksichtigen. Im Bereich der Fragebogen stehen der International Trauma Questionnaire (ITQ; Cloitre et al. 2018) für die PTBS und KPTBS, die International Prolonged Grief Disorder Scale (IPGDS; Killikelly et al. 2020) für die anhaltende Trauerstörung sowie der International Adjustment Disorder Questionnaire (IADQ; Shevlin et al. 2019) für die Anpassungsstörung zur Verfügung (alle sind auf www.traumameasuresglobal.com auch auf Deutsch erhältlich). Diese Fragebogen erlauben Einblicke in die symptomatische Ausprägung und haben zudem den Vorteil, dass sie über einen diagnostischen Algorithmus verfügen, mit dem eine Verdachtsdiagnose gestellt werden kann. Mit dem ITQ, IPGDS und IADQ kann also ein zielführendes Screening umgesetzt werden. Anders als bei den Fragebogen sind klinische Interviews zu den verschiedenen belastungsbezogenen Störungen teilweise erst in der Entwicklungsphase. Für die PTBS und KPTBS steht das International Trauma Interview (ITI; Bondjers et al. 2019; Roberts et al. 2017; deutsche Version: Bachem et al., eingereicht; erhältlich bei den Autoren des vorliegenden Beitrags) zur Verfügung. Während ein geeignetes Interview für die anhaltende Trauerstörung noch aussteht, wurde das Diagnostic Interview Module for ICD-11 Adjustment Disorder (CIDI-AjD Module; Perkonigg et al. 2021) für die Anpassungsstörung entwickelt.

Fazit

  • In der 11. Version der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11) wurden die Anpassungsstörung und die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vereinfacht und spezifischer definiert.

  • Die Anpassungsstörung ist auf der Symptomebene durch Präokkupation und Anpassungsschwierigkeiten gekennzeichnet, während die PTBS durch die 3 Symptomgruppen Wiedererleben, Vermeidung und anhaltende Wahrnehmung einer erhöhten aktuellen Bedrohung gekennzeichnet ist.

  • Die anhaltende Trauerstörung wurde als neue Diagnose eingeführt und manifestiert sich durch starke Sehnsucht, Präokkupation und emotionale Belastung in verschiedenen Erscheinungsformen.

  • Ebenfalls neu in der ICD-11 ist die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS). Bei dieser müssen alle klassischen PTBS-Symptome vorliegen. Zusätzlich besteht eine Störung der Selbstorganisation, die sich aus Emotionsregulationsproblemen, zwischenmenschlichen Schwierigkeiten und selbstherabsetzenden Überzeugungen zusammensetzt.