Stand: 08.02.24 17:00 Uhr

Augenärzte: Profit auf Kosten der Patienten?

von Christian Baars, Ann-Brit Bakkenbüll, Petra Blum, Brid Roesner

Finanzinvestoren haben in den vergangenen Jahren Hunderte Augenarztpraxen in Deutschland gekauft. Darüber hatte Panorama im April 2022 berichtet.

Eine der größten Ketten heißt Artemis. Sie hat inzwischen mehr als hundert Standorte in Deutschland und über 300 angestellten Ärzte. Ihr Mitgründer und aktueller Ärztlicher Direktor, Kaweh Schayan-Araghi, erklärte damals im Interview, keiner sei darauf aus, "schnelles Geld" zu machen. Neue Recherchen von Panorama lassen daran allerdings zweifeln.

Augenärzte: Profit auf Kosten der Patienten?
Keiner wolle "schnelles Geld" machen, beteuert der Vertreter einer großen Augenarztkette. Doch Panorama-Recherchen zeigen: Offenbar leitet er die Ärzte in seinem Konzern zu fragwürdigen Abrechnungen an.

Abrechnungs-Seminar für angestellte Ärzte

Demnach hat Schayan-Araghi im vergangenen Herbst zusammen mit einer Abrechnungs-Expertin aus seinem Unternehmen ein Online-Seminar für die bei seiner Kette angestellten Ärzte gegeben. Darin ging es darum, wie sie bei Privatpatienten "eine Menge mehr abrechnen können" - so drückt es Schayan-Araghi an einer Stelle aus.

"Fortbildung zur Gewinnmaximierung"

Andreas Spickhoff © Screenshot

Jurist Andreas Spickhoff sieht die Abrechnungspraxis kritisch.

Als "eine Fortbildung zur Gewinnmaximierung" bezeichnet es der renommierte Medizinrechtler Prof. Andreas Spickhoff von der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München im Panorama-Interview. "Das ist keine Ausreizung der Gebührenordnung, sondern eine Überreizung." Der Seminarleiter und die teilnehmenden Ärzte, die sich an solche Anweisungen hielten, würden gegen die Berufsordnung verstoßen und könnten ihre Approbation verlieren.

Der Jurist sieht in einigen Teilen der Schulung auch eine mögliche Anstiftung zu einer Straftat. Sollte tatsächlich so abgerechnet worden sein, würde man dies durch die große Zahl der beteiligten Ärzte "als bandenmäßigen Betrug qualifizieren müssen und als einen Betrug, der zu einem besonders hohen Schaden geführt hat", sagt Spickhoff.

Denn Artemis-Ärzte behandeln wohl Zehntausende Privatpatienten jedes Jahr. Kaweh Schayan-Araghi und die Abrechnungsexpertin stellen in dem Seminar eine Reihe von Möglichkeiten vor, wie die Einnahmen gesteigert werden können - etwa mit Operationen am Grauen Star. Die Ärzte sollen offenbar jeden dieser Eingriffe als überdurchschnittlich schwierig oder zeitaufwendig darstellen - und dafür eine entsprechende Begründung finden. Denn dann kann man fast 250 Euro mehr abrechnen als im Regelfall.

"Kreativ" Gebührensätze steigern

Kaweh Schayan-Araghi © Screenshot

Artemis-Chef Schayan-Araghi gab ein Seminar, wie Leistungen möglichst hoch abgerechnet werden können. (Archiv)

"Auch wenn Sie es vielleicht nicht als so schwierig empfinden sollten, muss man da ein bisschen kreativ sein", erklärt Schayan-Araghi. Es gebe zur Unterstützung eine "umfassende Sammlung an verschiedensten Steigerungsgründen", in denen die Ärzte mal "ein bisschen stöbern können". "Steigern Sie!", fordert der Ärztliche Direktor die angestellten Mediziner in dem Seminar auf. "Das ist so unser Weg, wie wir uns so ein bisschen den Inflationsausgleich holen können."

Aus Sicht von Andreas Spickhoff ist so etwas ein klarer Verstoß gegen die Gebührenordnung. "Man kann nicht immer irgendeinen Grund finden, warum etwas besonders schwierig ist, denn dann könnte man ja gleich den Höchstsatz als Pauschale immer abrechnen." Und wenn man eine Schwierigkeit vortäusche und entsprechend abrechne, erfülle das den Tatbestand des Betrugs.

Und es ist nicht die einzige fragwürdige Empfehlung. Zu bestimmten Netzhaut-OPs gibt es Hinweise, die offenbar dazu dienen, die Kontrolleure bei den Versicherungen zu täuschen. Ein "Zauberwort" müsse in dem OP-Bericht auftauchen, dann würden die Abrechner die 1.000 Euro, um die es geht, nicht wegstreichen, erklärt Schayan-Araghi.

Medizinisch fragwürdige Untersuchungen

Außerdem geht es um eine ganze Reihe von kleineren Beträgen, die zusammengerechnet bei den vielen Patienten wohl einen Millionenbetrag ausmachen. Ein Beispiel: Die Artemis-Ärzte sollen offenbar einen bestimmten Sehtest bei allen Privatpatienten machen. Medizinisch ist der Nutzen fragwürdig. Ein Arzt, der bei Artemis arbeitet, aber unerkannt bleiben will, erklärt im Panorama-Interview: "Das ist wie wenn Sie zum HNO-Arzt gehen, weil die Nase läuft, und der macht jedes Mal einen Hörtest."

Auch andere Augenärzte bestätigen, es sei nicht sinnvoll, einen solchen Check jedes Mal zu machen, auch nicht bei Jüngeren. Aber man kann dafür bei Privatpatienten etwa 16 Euro abrechnen. Das sei "schnell verdientes Geld", sagt Schayan-Araghi in der Schulung. Das sei zwar ungerecht, "aber wenn es mal zu unseren Gunsten ungerecht ist, dann wollen wir das auch gern ausnutzen".

Der bei Artemis beschäftigte Arzt berichtet zudem, sie hätten in dem Seminar unter anderem erfahren, dass sie mehr als 20 Euro "ganz einfach abrechnen können, wenn wir mit einer Taschenlampe mal kurz ins Auge leuchten". Eigentlich ist dieser Test der Pupillenreaktion laut dem Verband der Privaten Krankenversicherungen Bestandteil einer Pauschale für eine Augenuntersuchung. Aber die Artemis-Zentrale empfiehlt offenbar, ihn zusätzlich abzurechnen - wie auch einige andere Untersuchungen. Es sei darum gegangen, "die Privatabrechnungen in die Höhe zu treiben", sagt der Artemis-Arzt.

Mögliche Anstiftung zum Abrechnungsbetrug

Dorothea Röhl © Screenshot

Abrechnungsbetrug sei schwer nachzuweisen, sagt die ehemalige Leiterin der Schwerpunktstaatsanwaltschaft in Lübeck, Dorothea Röhl.

Auch die ehemalige Leiterin der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Abrechnungsbetrug in Schleswig-Holstein, Dorothea Röhl, erkennt in einigen Aufforderungen aus dem Seminar eine mögliche Anstiftung zu einer Straftat. Allerdings sei ein Betrug "wahnwitzig schwierig" nachzuweisen. Denn die Gerichte müssen jede einzelne Abrechnung prüfen. Sie sieht die privaten Krankenversicherungen in der Pflicht sowie die Beihilfestellen, die für die in der Regel privat versicherten Beamten einen Teil der Abrechnungen übernehmen. Die müssten stärker kontrollieren. Denn letztendlich gehe es auch um Geld, was von jedem Steuerzahler aufgebracht werde.

Die Beihilfestelle in Hessen, wo Artemis seinen Hauptsitz hat, wollte nicht mit dem NDR sprechen. Schriftlich teilte sie mit, sie würde Verdachtsfällen nachgehen und aktuell "automatisierte Prüfregelwerke" entwickeln. Auf die Frage, ob es in den vergangenen Jahren vorgekommen sei, dass eine große Arztkette systematisch höhere Beträge in Rechnung stelle, hat sie nicht konkret geantwortet. Auch mehrere große Versicherungen haben diese Frage nicht beantwortet, nur allgemein geschrieben, sie würden Rechnungen auf Auffälligkeiten prüfen und bei gravierenden Fällen Ermittlungsbehörden einschalten.

Unklar, ob Artemis-Ärzte zu viel abrechnen

So bleibt unklar, ob Artemis-Ärzte tatsächlich überdurchschnittlich hohe Rechnungen schreiben oder eventuell die Hinweise aus ihrer Zentrale nicht oder nur teils befolgen - und auch, wie es andere große Ketten handhaben, zu denen sich bei "Panorama" kein Hinweisgeber gemeldet hat.

Kaweh Schayan-Araghi selbst könnte womöglich Auskunft geben. Denn er sitzt seit vielen Jahren im Vorstand des Berufsverbands der Augenärzte (BVA) und ist 1. Vorsitzender des Bundesverbands der Augenchirurgen (BDOC). Allerdings hat er auf eine Anfrage für ein Fernseh-Interview dieses Mal nicht reagiert.

Artemis weist Vorwürfe zurück

Auf schriftlich gestellte Fragen teilte sein Unternehmen Artemis mit, es weise die Vorwürfe entschieden zurück. "Die Artemis-Gruppe handelt in Übereinstimmung mit geltenden Gesetzen." Alle Ärzte seien verpflichtet, sich an die Gebührenordnung zu halten. Die Artemis-Gruppe befolge "jederzeit alle geltenden Abrechnungsbestimmungen einschließlich der GOÄ vollumfänglich". Ihre eigenen Compliance-Richtlinie sehe "unmissverständlich" vor: "Erbrachte Behandlungsleistungen sind korrekt zu dokumentieren." Und laut Artemis entscheiden die Ärzte allein aus medizinischen Gründen, wie Patienten behandelt werden. "Bei der Auswahl der jeweiligen Behandlungsmethodik steht immer und ausnahmslos die effizienteste und wirksamste Methode für eine bestmögliche Patientenversorgung an erster Stelle", so Artemis.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 08.02.2024 | 21:45 Uhr