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Krankenhauskritiker: „Private Kliniken betreiben Selektion“

Wangen / Lesedauer: 5 min

Thomas Strohschneider ist Arzt, Buchautor und geht scharf mit dem Gesundheitssystem ins Gericht. Deshalb sei Deutschland „Weltmeister“ bei bestimmten Operationen.
Veröffentlicht:29.02.2024, 05:00

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„Private Kliniken betreiben Selektion.“ Mit diesen deutlichen Worten kritisierte Thomas Strohschneider den immer stärkeren Einstieg privater Investoren in das deutsche Gesundheitswesen. Er fand dabei viel Zustimmung bei den knapp 60 Interessierten, die sich zu seinem Vortrag „Krankenhaus in der Krise“ im Gemeindesaal der Evangelischen Stadtkirche Wangen eingefunden hatten.

Thomas Strohschneider (links) und Ulrich Bauer, Organisator des Abends und Vorstandsmitglied des Fördervereins Westallgäu-Klinikums.
Thomas Strohschneider (links) und Ulrich Bauer, Organisator des Abends und Vorstandsmitglied des Fördervereins Westallgäu-Klinikums. (Foto: Wolfgang Kraft )

Eingeladen hatte der Förderverein Westallgäu-Klinikum, der sich den Erhalt einer guten Grund- und Regelversorgung inklusive der Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Wangen beziehungsweise im Westallgäu zum Ziel gesetzt hat.

Wie beurteilt der Autor die allgemeine Situation?

Strohschneider, der selbst über Jahre Chefarzt einer gefäßchirurgischen Abteilung in einer Privatklinik in Stuttgart war, begründete seine Kritik: Seit 1985 dürfen auch Krankenhäuser Gewinn erwirtschaften und seitdem sind private Investoren immer intensiver in das Gesundheitswesen eingestiegen. Heute gehören fast 40 Prozent der deutschen Krankenhäuser international agierenden Konzernen wie beispielsweise die Helios-Kliniken, die zum Gesundheitskonzern Fresenius gehören.

Ein großer Privatisierungsmotor sei die mangelnde Investitionstätigkeit der Länder, denn in Deutschland übernehmen die Krankenkassen die laufenden Kosten, während die Bundesländer die Unterhalts- und Investitionskosten (zum Beispiel Errichtung von Gebäuden, Geräteausstattung) tragen sollen. Und wenn die Defizite der öffentlichen Krankenhäuser immer höher werden, wachse die Bereitschaft, sich von dieser Belastung durch den Verkauf an einen privaten Konzern zu befreien.

Warum können private Krankenhäuserträger Gewinne erwirtschaften - öffentliche Träger aber schreiben Verluste?

Aus Sicht von Strohschneider konzentrieren sich privatwirtschaftlich geführte Häuser in erster Linie auf planbare, gut abrechenbare und Gewinn verheißende medizinische Sparten wie Orthopädie oder Kardiochirurgie. Strohschneider: 

Deutschland ist heute Weltmeister bei Herzkatheder- und Hüftoperationen.

Bereiche, die Kosten und Verluste verursachen wie Kindermedizin oder Gastroenterologie, überlasse man lieber staatlichen oder gemeinnützigen Trägern, die wegen ihres Versorgungsauftrags auch Patienten mit kostenintensiven Behandlungen aufnehmen müssen.

So schütten die privaten Konzerne ihren Shareholdern und Aktionären durch Gewinnbeteiligungen bis zu 15 Prozent Rendite aus. Dadurch komme es, so Strohschneider weiter, zu einem jährlichen Geldabfluss von mehreren hundert Millionen Euro aus unserem Gesundheitswesen, den wir mit unseren Krankenkassenbeiträgen finanzieren.

Welche Auswirkungen haben die sogenannten DRGs (Fallpauschalen)?

Zu Beginn des Jahrtausends fand ein grundlegender Wandel im Abrechnungssystem eines Krankenhausaufenthaltes statt. Wurden bisher pauschal die Verweiltage im Krankenhaus bezahlt, erhält die Klinik nun nach dem Fallpauschalensystem (DRG) für die Behandlung einer bestimmten Erkrankung einen Pauschalbetrag, der alle Behandlungskosten, Operationen und Therapien abdeckt.

Dieser Betrag richtet sich in der Regel nach der Hauptdiagnose des Patienten - unabhängig davon, ob es weitere Diagnosen gibt und welche medizinischen Ressourcen für eine Gesamttherapie aufgebracht werden müssen. Strohschneider: „Für die Klinik ist es ökonomisch betrachtet weitaus besser, einen Patienten vorwiegend wegen seiner Hauptdiagnose zu behandeln, beispielsweise wegen seiner Gallenkolik.“

Sobald dieses Problem ausreichend behandelt sei, werde er schnellstmöglich entlassen. Wegen seines entgleisten Zuckers oder seiner Herzschwäche nehme man ihn dann Tage oder Wochen später erneut stationär auf. Nun könne das Spiel von vorne losgehen. „Man bezeichnet dies auch als ‚Drehtüreffekt‘.“

Die ursprüngliche Absicht bei Einführung des DRG-Systems, nämlich die Zahl der stationären Behandlungen deutlich zu reduzieren und damit Krankenhauskosten zu sparen, sei deutlich verfehlt worden - vielmehr sei es zu einer massiven Steigerung der stationären Behandlungen seit 1991 von 14,6 Millionen auf 19,4 Millionen im Jahr 2019 gekommen. Andererseits sei die Verweildauer im Krankenhaus von 14 Tagen auf 7,2 Tage gefallen. Die Zahl der Krankenhäuser sank übrigens seit 1980 um fast die Hälfte von 3800 auf 1877 Häuser.

Was sichert eine gute Grund- und Regelversorgung?

Strohschneider betonte, er sei nicht generell gegen die Schließung defizitärer Krankenhäuser: „In Stuttgart, mit über 30 Kliniken, merken Sie kaum, wenn eine schließt. Das ist im ländlichen Raum ganz anders, wo die Wege dann viel länger werden.“

Deshalb müssen für jeden eine ausreichende Grundversorgung in der Nähe gesichert sein. Dazu zählen für Strohschneider insbesondere die chirurgische und die internistische Versorgung und gegebenenfalls eine Geburtshilfe.

Wie bewertet Strohschneider die MVZs?

„MVZ werden vielfach als Heilsbringer angepriesen“, so Strohschneider. Er sieht aber die große Gefahr, dass private Unternehmen MVZ als Spekulationsobjekte kaufen, sie zu Praxiskonzernen fusionieren und dann mit Gewinn weiterverkaufen. Denn für Private bieten die MVZ eine optimale Steuerung der Patientenströme. „MVZ sind heute durchschnittlich vier bis fünf Jahre im Besitz eines Trägers.“

Vor allem auf dem Land und in strukturschwachen Regionen seien das dann ambulante Zwischenversorger, die keine Notfall- und Grundversorgung und keine ärztliche 24-Stunden Rundumversorgung mehr anbieten. „In der Nacht oder am Wochenende sollen Patienten beispielsweise von Pflegekräften oder von Hausärzten versorgt werden. Wie das bei dem jetzt schon bestehenden Hausärztemangel gerade in ländlichen Regionen bewerkstelligt werden soll, ist mir nicht klar.“

Dabei erlebt gerade die Notaufnahme am Krankenhaus in Wangen laut Oberschwabenklinik (OSK) einen Ansturm. Die Zahl der Fälle am Westallgäu-Klinikum sind seit dem Jahresanfang um bis zu 30 Prozent gestiegen - dies auch wegen der Schließung der Notaufnahme am Lindenberger Krankenhaus.

Was kritisiert Strohschneider weiter?

Das Abrechnungssystem sei so komplex geworden, dass bei den Krankenkassen wie bei den Kliniken bundesweit mehrere Tausend gut ausgebildete Ärztinnen und Ärzte mit diesem Bürokratiemonster beschäftigt und damit ihrer eigentlichen Aufgabe entzogen worden seien. Diese fehlen nun an den Kliniken und in den Praxen.