UKSH-Modell für bessere Patientengespräche bald in mehr Kliniken

Stand: 02.03.2024 05:00 Uhr

Eine Diagnose kann das Leben von Grund auf für immer verändern. Doch welche Entscheidung ist dann die beste für die eigene Gesundheit? Ein Projekt vom UKSH in Kiel will Patienten dabei helfen - dies soll jetzt überregional etabliert werden.

von Julia Jänisch

Bei einer neu gestellten Diagnose müssen Patienten oft schnell Entscheidungen treffen - über ihre gesundheitliche Zukunft, manchmal das ganze restliche Leben. Und das, obwohl sie unter Umständen erst einmal unter Schock stehen, unsicher sind und Angst haben, vor dem, was kommt.

Erster Ansprechpartner bei diesen Entscheidungen ist dann meistens das medizinische Personal. Ein Team vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) in Kiel will Ärzten und Patienten diesen Prozess erleichtern: Mit der digitalen Entscheidungshilfe "Share to Care". Professor Friedemann Geiger und sein Team haben das Programm entwickelt.

So funktioniert "Share to Care"

Ein Artikel klärt die Bedeutung von allergischem Schnupfen. © Share to care (Screenshot)
Unter dem Punkt "Allergie" findet sich zum Beispiel "allergischer Schnupfen", also Heuschnupfen.

Mit "Share to Care" sollen Patienten die für sie beste Behandlungsmethode finden. Sie können online in einem einfachen Menü zwischen 14 unterschiedlichen Körperthemen wählen: unter anderem Stoffwechsel, Herz oder Allergie sind dabei. Mit dem nächsten Klick werden dann verschiedene Diagnosen vorgeschlagen. Unter dem Punkt "Allergie" findet sich zum Beispiel Heuschnupfen. Als nächstes sollen die Patienten Antworten auf zwei Fragen bekommen: Was bedeutet meine Erkrankung? Und welche Behandlungsmöglichkeiten habe ich? Zu jedem Punkt gibt es Textbausteine, weiterführende Links und Videos. Auf Basis der Informationen können dann Fragen beantwortet werden, die im Idealfall zu einer Entscheidung oder immerhin zu einer Tendenz führen sollen.

UKSH: Gesundheitskompetenz der Patienten wird verbessert

Das Ganze ist Teil der gemeinsamen Entscheidungsfindung, im Fachjargon: Shared Decision Making. Patienten und Ärzte entscheiden zusammen. Durch "Share to Care" haben Patienten aber viel mehr Informationen und Zeit, um ihre Entscheidung zu treffen. Zeit, die wichtig ist, in getakteten Arzt-Patienten-Gesprächen aber oft fehlt.

Professor Friedemann Geiger, Leiter Nationales Kompetenzzentrum Shared Decision Making, UKSH Kiel. © NDR Foto: Julia Jänisch
Friedemann Geiger ist Leiter des "Nationalen Kompetenzzentrums Shared Decision Making".

Initiator Friedemann Geiger sagt: "Ich sehe Shared Decision Making als etwas an, was ganz wesentlich von den eigentlichen Hauptpersonen in der Medizin getragen sein muss: nämlich den Patientinnen und Patienten."

Und das scheint zu funktionieren: Seit Patienten "Share to Care" am UKSH nutzen, habe sich ihre Gesundheitskompetenz messbar verbessert. Bedeutet: Sie wissen dadurch besser über ihre Krankheit und die Konsequenzen Bescheid. Außerdem sei Behandlungsqualität nachweisbar gestiegen, die Kosten aber gesunken. 

Facharzt: Expertise des Patienten und der Ärzte zusammenwerfen

Alle großen Krankenkassen zahlen dem UKSH inzwischen ein Zusatzentgelt für das Programm, sodass neue Mitarbeitende gezielt geschult werden können. Denn auch Ärzte und Pflegekräfte sollen durch "Share to Care" entlastet werden. Philipp Bergmann, Facharzt für Innere Medizin am UKSH, hat "Share to Care" positiv überrascht: "Ich glaube, das Programm hat große Effekte gehabt. Mit 'Share to CareÄ ist man oft auf eine bessere Stufe in der Kommunikation mit den Patienten gekommen." Zwar seien die Ärzte weiterhin die Experten für die Erkrankung, aber: "Die Patienten, das sind die Experten für sich selber, für ihr Leben, für die Situation, in der sie sich befinden, in der sie jetzt krank geworden sind." Wenn man die Expertise von Ärzten und Patienten bündele, werde man seiner Ansicht nach zu einem besseren Ergebnis kommen.

Kieler Modell soll bundesweit eingeführt werden

Auch aufgrund dieser Erfahrungen von Ärzten und Patienten unterstützt das schleswig-holsteinische Gesundheitsministerium das Programm, sagt Abteilungsleiter Martin Oldenburg. Er ergänzt: "Die Maßnahme kann gleichzeitig sinnvoll dazu beitragen, Über- und Fehlversorgung zu vermeiden. Das Konzept erweitert zugleich die Gesundheitskompetenz von Patientinnen und Patienten und hilft im Alltag die gesündere Wahl zu treffen."

Der gemeinsame Bundesausschuss, Gremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, empfiehlt, das Kieler Modell "Share to Care" jetzt bundesweit einzuführen. Das passiert aktuell in Bayern, NRW und Schleswig-Holstein. Am 13. März wollen Vertreter der übrigen 15 Bundesländer nach Schleswig-Holstein kommen, um sich das Programm vor Ort genauer anzugucken. Und auch über die deutschen Grenzen hinaus wird die gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Patient und Arzt schon jetzt implementiert: zurzeit auf Teneriffa und in Dänemark.

Deutsch-dänische Zusammenarbeit

Professor Karina Dahl Steffensen, Leiterin "Center for Fælles Beslutningstagning" in Velje, Dänemark. © NDR Foto: Julia Jänisch
Professor Karina Dahl Steffensen ist Leiterin des "Center for Fælles Beslutningstagning" in Velje, Dänemark.

Besonders Dänemark ist ein interessanter Partner: Denn parallel zu "Share to Care" in Kiel hat sich in Süddänemark etwas analoges entwickelt: Das Programm "SDM:HOSP" unter der Leitung des "Center for Fælles Beslutningstagning" in Velje.

Unabhängig vom Kieler Modell haben die Dänen einen papierbasierten Fragebogen entwickelt, der als Unterstützung während eines Arzt-Patienten-Gesprächs einsetzbar ist.
Da "Share to Care" aus Deutschland vor einem solchen Gespräch angewendet wird, ergänzen sich beide Programme.

Ärztin aus Dänemark: Mehr Wissen, weniger Beschwerden

Deutsche und Dänen wollen jetzt herausfinden, was sie voneinander lernen können und wie sich beide Möglichkeiten ergänzen lassen. Ziel sei es, unter dem Titel "DAILY SDM" einen europäischen Shared Decision Making Standard zu entwickeln, sagt Friedemann Geiger vom UKSH Kiel. Seine Kollegin auf dänischer Seite, Karina Dahl Steffensen, ergänzt: "Wenn ich eine Patientin wäre, würde ich mich viel besser fühlen, wenn mir alle Optionen mit den Vor- und Nachteilen vorgelegt würden. Ich denke, es ist einfach das Richtige. Sie wissen besser Bescheid über ihre Krankheit und über die Behandlungsmöglichkeiten. Sie sind zufriedener. Sie beschweren sich weniger."

Die Zusammenarbeit fördert die EU mit dem Interreg-Programm noch bis 2026 mit drei Millionen Euro. Konkret sollen bis dahin zweisprachige digitale Entscheidungshilfen entwickelt werden - und mindestens 100 Ärzte, 200 Krankenschwestern und -pfleger in dem Programm geschult werden.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Schleswig-Holstein Magazin | 29.02.2024 | 19:30 Uhr

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