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Arzneimittel-Kompass 2021: Preisentwicklung erhöht Reformbedarf

Arzneimittel-Kompass 2021: Preisentwicklung erhöht Reformbedarf (AOK Bundesverband).



Der Arzneimittelumsatz der gesetzlichen Krankenkassen hat einen neuen Höchststand erreicht: Im Jahr 2020 ist er gegenüber dem Vorjahr um 4,9 Prozent auf 49,2 Milliarden Euro gestiegen. Ausschlaggebend dafür ist der ungebrochene Trend zur Hochpreisigkeit bei neuen Arzneimitteln, sagt Helmut Schröder,
stellvertretender Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK
(WIdO), anlässlich der Publikation des neuen Arzneimittel-Kompass 2021.

Gegenüber 2011 hat sich der Durchschnittspreis einer Arzneimittelpackung für
eine neue Markteinführung auf das 57-Fache erhöht: In 2011 lag der
durchschnittliche Packungspreis für ein Arzneimittel, das in den
vorangegangenen 36 Monaten auf den Markt gekommen ist, bei 902 Euro. Im August
2021 wurde hier schon ein Preis von 51.189 Euro notiert. Der aktuelle
Spitzenplatz wird von Libmeldy® mit einem Listenpreis von 2,875 Millionen Euro
belegt, einem Medikament, das zur Behandlung einer seltenen Erbkrankheit bei
Kindern eingesetzt wird.

Immer mehr Geld für immer weniger Arzneimittel
"Generell werden 'Hochpreiser' nicht nur häufiger von den Herstellern auf den
Markt gebracht, sondern nehmen auch immer größere Umsatzanteile ein", so
Schröder und ergänzt: "Die Folge ist, dass zunehmend mehr Geld für die
Versorgung von wenigen Patientinnen und Patienten aufgewendet wird." Während in
2011 noch rund 17 Prozent des Gesamtumsatzes auf Arzneimittel mit Preisen von
1.000 Euro oder mehr entfielen, waren es in 2020 bereits 43 Prozent des
Umsatzes. "Damit haben sich die Umsätze von hochpreisigen Arzneimitteln in den
letzten zehn Jahren vervierfacht und liegen 2020 bei rund 20,9 Milliarden
Euro", so Schröder. Diese Arzneimittel mit einem Preis von 1.000 Euro und mehr
erreichten aber nur einen Verordnungsanteil von 1,1 Prozent aller 684 Millionen
Verordnungen des Jahres 2020.

Interimspreis muss eingeführt werden
Angesichts dieser Entwicklung sieht der AOK-Bundesverband dringenden
Handlungsbedarf für die Politik, um in Zukunft eine qualitativ hochwertige und
bezahlbare Arzneimittelversorgung in Deutschland sicherzustellen. "Die
Solidargemeinschaft muss von immer weiter steigenden Arzneimittelausgaben
entlastet werden", betont der AOK-Vorstandsvorsitzende Martin Litsch anlässlich
der Vorstellung des Arzneimittel-Kompass 2021. Damit Arzneimittel auch künftig
für alle bezahlbar bleiben, müsse gegengesteuert werden. Eine Möglichkeit sei
die Einführung des Interimspreises in Kombination mit einem rückwirkenden
Erstattungsbetrag, den die AOK seit Langem fordert.

Insgesamt 2,02 Milliarden Euro hätte die GKV in den Jahren 2011 bis 2020
einsparen können, wenn die vereinbarten Erstattungsbeträge bereits ab der
Markteinführung beziehungsweise Zulassungserweiterung gültig gewesen wären.
"Der Interimspreis ist ein wirksames Instrument, um die einseitige Marktmacht
der pharmazeutischen Hersteller im ersten Jahr bei den Preisen für neu
eingeführte Arzneimittel endlich zu stoppen", sagt Litsch. Dieser
Übergangspreis könne zum Marktzugang eines neuen Arzneimittels für eine gewisse
Zeit festgelegt werden und so lange gelten, bis er durch den ausgehandelten
Erstattungsbetrag rückwirkend ersetzt wird. "So kann der alte Webfehler des
Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetzes (AMNOG) endlich behoben werden", sagt
Litsch. Darüber hinaus könnten kurzfristige Einsparungen wie zum Beispiel die
Anhebung des Herstellerabschlags für patentgeschützte Arzneimittel von sieben
auf 16 Prozent für eine Atempause auf dem Arzneimittelmarkt sorgen.

Hohe Preise gehen mit hohen Gewinnen einher
"Wir beobachten in den letzten Jahren einen in Teilen entfesselten
Arzneimittelmarkt der Rekordpreise und Rekordgewinne, in dem der tatsächliche
Nutzen sowie die Sicherheit der Patientinnen und Patienten nicht ausreichend
berücksichtigt werden", sagt Schröder. Den Herausforderungen durch hohe
Arzneimittelpreise stünden hohe Gewinnmargen der pharmazeutischen Unternehmen
gegenüber. In diesem Zusammenhang verweist der Arzneimittelexperte auf die 21
weltweit umsatzstärksten Unternehmen, die im vergangenen Jahr 53,0 Prozent der
Nettoumsätze des GKV-Gesamtmarktes auf sich vereint haben und dabei große
EBIT-Margen (Gewinn vor Zinsen und Steuern im Verhältnis zum Umsatz) von
durchschnittlich 25,7 Prozent aufweisen. "Ob in der Wirtschaftskrise in den
Jahren nach 2008 oder auch in der Corona-Pandemie - die Branche der
pharmazeutischen Industrie erweist sich ein ums andere Mal als krisensicher",
so Schröder. Gleichwohl erhöhten die vollen Forschungspipelines der
pharmazeutischen Hersteller, die sich auf Felder konzentrieren, in denen hohe
Gewinne locken, auch den Handlungsdruck.

Um diese Entwicklung zu bremsen, zeigt der Arzneimittel-Kompass 2021
verschiedene Lösungswege auf. Dazu gehört unter anderem die Weiterentwicklung
der frühen Nutzenbewertung und der daran anschließenden
Erstattungspreisverhandlungen.

Weg zu einem fairen Preis
"Um dem weltweit erkennbaren Trend zur Hochpreisigkeit von Arzneimitteln
langfristig zu begegnen, gibt es Lösungsansätze, wie die Preissetzung von
patentierten Arzneimitteln grundsätzlich reformiert werden kann", sagt
Mitherausgeber Schröder. Ein auf einem Vorschlag der Erasmus Universität
Rotterdam basierender Lösungsansatz vom Internationalen Verband der
Krankenkassenverbände und Krankenversicherungen auf Gegenseitigkeit (AIM)
ermögliche die Ermittlung eines Preises für jedes neue Arzneimittel, der als
"fair" betrachtet wird. Damit könne die inzwischen fehlende Balance zwischen
dem Nutzen eines Arzneimittels, den hohen Preisen sowie den sich daraus
ergebenden Einnahmen und Gewinnen der pharmazeutischen Industrie
wiederhergestellt werden.

Das Modell, das bereits im Europäischen Parlament vorgestellt wurde, setzt
Kosten für Forschung und Entwicklung (F&E) eines neuen Arzneimittels mit einem
Pauschalbetrag von 250 Millionen Euro an. Im Modell können dann pharmazeutische
Hersteller ihre darüber hinaus gehenden eigenen Investitionen dokumentieren und
bis zu einer Grenze von 2,5 Milliarden Euro geltend machen. Da bei einer
Vielzahl von Medikamenten eine öffentliche Finanzierung von F&E erfolgt -
indirekt bei rund 50 Prozent aller Arzneimittel und sogar bei 65 Prozent der
besonders innovativen Arzneimittel -, finden in diesem Modell nur noch die
eigenen Investitionen der Hersteller Berücksichtigung, und die öffentliche Hand
zahlt nicht wie heute doppelt für Forschungsförderung und hohe Preise. Bei der
Ermittlung des fairen Preises werden darüber hinaus auch weitere Kosten der
Hersteller berücksichtigt. Auf die Investitionen und Kosten des
pharmazeutischen Unternehmens wird ein Grundgewinn gewährt. Echte
Therapie-Innovationen können mittels eines zusätzlichen Aufschlags honoriert
werden. Dieser Bonus soll einen Anreiz schaffen für die Entwicklung besonders
innovativer Medikamente mit hohem Nutzen für die Betroffenen und einem
dringenden Versorgungsbedarf.

Grenzen für schnelle Zulassungsverfahren
Die Entwicklungen der Arzneimittelforschung gehen verstärkt in Richtung
individualisierter Therapien wie beispielsweise in der Krebstherapie. So waren
im Jahr 2020 in der EU zwölf der 32 neu zugelassenen Wirkstoffe Onkologika -
alle basieren auf ganz neuen Wirkmechanismen. Und sieben der zwölf waren
wiederum sogenannte Orphan Drugs, also Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen.
Das sind Erkrankungen, die in der EU weniger als fünf pro 10.000 Einwohner
betreffen. Viele dieser Arzneimittel werden in beschleunigten Verfahren
frühzeitig zugelassen und auf den Markt gebracht.

"Die beschleunigte Zulassung führt jedoch dazu, dass wir zum Zeitpunkt der
Zulassung wenig über die Sicherheit und Wirksamkeit dieser Wirkstoffe wissen",
sagt Prof. Dr. Petra Thürmann von der Universität Witten/Herdecke und
Mitherausgeberin des Arzneimittel-Kompass 2021. Die Nachlieferung weiterer
Erkenntnisse erfolge oftmals zögerlich, da die pharmazeutischen Hersteller
hierzu zwar verpflichtet seien, das Nichterfüllen aber ohne Konsequenzen
bleibe. Deshalb sei eine Bewertung von Onkologika und Orphan Drugs nach
transparenten Kriterien, wie sie beispielsweise internationale
Fachgesellschaften entwickelt haben, dringend geboten. Die Definition für
Orphan Drugs ist zu überarbeiten. Auch die Voraussetzungen, wann ein Bedarf für
ein Arzneimittel so groß ist, dass es beschleunigt zugelassen wird, gehören auf
den Prüfstand. Die Nutzenbewertung dürfe nicht nur als Instrument der
Preissenkung genutzt werden. Die medizinisch-therapeutischen Erkenntnisse
müssen zur Grundlage für die rationale Arzneimittelverordnung in der täglichen
ärztlichen Praxis gemacht werden.

Quelle: AOK Bundesverband, 27.10.2021

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