...mal eine soziale Frage

  • Hallo Forum,

    ich bin blutjunger Student und habe von medizinischer Praxis noch kaum eine Ahnung. Deshalb an eine Frage an euch Experten.

    In einer alten Ausgabe des \"New England Journal of Medicine\" las ich gerade einen Artikel über die DRG Einführung in den USA (in den 1980ern in einzelnen Ostküstenstaaten). Es wurde dort behauptet, dass DRG insbesondere für obdachlose Menschen von Nachteil wäre. Begründung: Obdachlose würden besonders viele chronische Krankheiten haben und deshalb für Krankenhäuser zu einem finanziellen Risiko werden (weil selbst nach erfolgreicher Heilung der Krankheit, wegen der er eingeliefert wurde, der Patient nicht entlassen werden kann, weil er ja noch so viele andere Krankheiten hat). Die Frage ist jetzt...

    1. Stimmt das so?
    2. Ein Patient in einem Krankenhaus kann doch, selbst nach erfolgreich therapierter Krankheit, weiter im Krankenhaus bleiben, wenn er einfach eine neue DRG bekommt, oder?
    3. Oder ist es tatsächlich so und das Problem wird nur in Deutschland gar nicht diskutiert?

    Vielleicht ist es noch von Relevanz, dass diese NEJM-Studie in New York stattgefunden hat - also einer Stadt mit besonders hohem Obdachlosenanteil...

    Nun... Ich würde mich sehr über Antworten freuen...
    Viele Grüße, N.B.

  • Lieber Nestor Burma,

    nun ist sicher das amerikanische Sozialsystem mit dem deutschen kaum zu vergleichen, und auch die medizinische Versorgung von Patienten am \"unteren Rand der Gesellschaft\", wie es so euphemistisch heisst, ist sicher in den USA anders geregelt, als bei uns. Ob es ín NY verhältnismässig mehr Obdachlose gibt, als z.B. in Berlin, kann ich ihnen auch nicht sagen, auch wenn ich es annehme.

    Die Arbeit im NEJM zeigt aber eine allgemeine Problematik von DRG-Systemen auf: Die Abbildung von multimorbiden Patienten.
    Wenn z.B. ein Patient mit einem diabetischen Fuß auf Grund eines hyperalimentärem Syndroms in ein KH zur Behandlung kommt, damit ihm sein gangränöser Zeh abgenommen wird, so kann dies noch ganz gut per DRG abgebildet werden. Wenn aber im selben Krankenhausaufenthalt anschliessend noch sein Zucker, der maligne Hypertonus und die Herzinsuffizienz über Wochen medikamentös eingestellt werden muss, eventuelle noch eine Niereninsuffizienz und ein Asthma besteht, dann wirds ein echtes Problem.
    Denn, um ihre zweite Frage gleich zu beantworten: der Patient bekommt für jeden Krankenhausaufenthalt nur genau eine DRG.
    Diese kann sich zwar durch die Comorbidität (Stichwort PCCL-Wert) verändern, aber trotzdem wird sie im wesentliches nur durch die Hauptdiagnose (z.B. Diabetischer Fuß) und die Operation bestimmt. Die Therapien der anderen Begleiterkrankungen wird evtl. nur unzureichend abgebildet, und dadurch können durchaus höhere Kosten entstehen, als Erlöse erwirschaftet werden.

    Das Problem wird in Deutschland durchaus diskutiert. So soll es bereits zur Ablehnung von älteren multimorbiden Patienten in Krankenhäusern gekommen sein. Zumindest wurde dieses Problem immer als Gegenargument zu einer Bezahlung nach DRG benutzt.

    Über dieses Thema liesse sich trefflich noch seitenweise schreiben und streiten. Ich hoffe, zumindest ihre Fragen im Ansatz beantwortet zu haben.

    Mit freundlichen Grüßen,

    Stefan Stern

    Dr. Stefan Stern :sterne:
    Klinik für Anästhesiologie
    Klinikum der Universität München

  • Lieber Stefan Stern,
    vielen Dank für die ausführliche Antwort. Ja, sie hat mir weiter geholfen, bzw. mir vor allem die Stichwörter genannt und erklärt, nach denen ich weiterforschen werde! Diese Debatte, die Sie da angesprochen haben, interessiert mich nämlich in der Tag.
    Viele Grüße nach München also, Nestor Burma