Wertes Forum,
durch Zufall bin ich gestern auf das oben genannte LSG-Urteil vom 18.08.2020 gestoßen.
Nach meinem bisherigen Verständnis war die Logik/Kodierfähigkeit des N17.- wie folgt:
Ein Patient wird mit einem erhöhten Krea-Wert von 2,0 mg/dl in die Klinik aufgenommen. Es liegt weder eine Exsikkose noch eine chronische Niereninsuffizienz vor. Mittels Infusionstherapie wird der Krea-Wert auf 1,2 mg/dl gesenkt. Über die Formulierung "Anstieg des Serumkreatinins von einem gemessenen Ausgangswert oder anzunehmenden Grundwert des Patienten um mindestens 50 % innerhalb der vorangehenden 7 Tage" im Definitionstext des N17 war für mich davon auszugehen, dass der Patient vor dem Krankenhausaufenthalt einen normwertigen Krea-Wert von 1,2 mg/dl hatte. Somit hatte der Patient vor dem Krankenhausaufenthalt einen anzunehmenden Grundwert von 1,2 mg/dl und entsprechend einen Anstieg um 66,6 % auf den zur Aufnahme führenden erhöhten Wert von 2,0 mg/dl. Demnach war für mich hier ein N17.91 kodierbar.
Die Formulierungen im Definitionstext sind von der KDIGO-Leitlinie von 2012 in meinen Augen etwas unsauber übersetzt worden (siehe S. 22 des verlinkten PDF):
"2.1.1. AKI is defined as any of the following (Not Graded):
- Increase in SCr by ≥ 0.3 mg/dl (≥26.5lmol/l)within 48 hours; or
- Increase in SCr to ≥1.5 times baseline, which is known or presumed to have occurred within the prior 7 days; or
- Urine volume <0.5 ml/kg/h for 6 hours."
Die Übersetzung im N17.- macht aus dem einzelnen Begriff "baseline" die zwei Begriffe "gemessener Ausgangswert" und "anzunehmender Grundwert". Auf den ersten Blick erscheint das nicht weiter gravierend, auf den zweiten Blick bei strenger Auslegung nach Wortlaut hat dies allerdings Konsequenzen für die Stadieneinteilung an der 5. Stelle des N17.-:
Hier wird in der Stadieneinteilung 1-3 nur noch der Ausgangswert nicht aber der anzunehmende Grundwert benannt (die KDIGO-Leitlinie hatte ja von Anfang an nur den einen Begriff "baseline, which is known or presumed" verwendet und verwendet diesen logischerweise auch weiter in der Stadieneinteilung in Tabelle 2, siehe ebenso S. 22 der oben verlinkten Leitlinie):
"Stadium 1
Anstieg des Serum-Kreatinins um mindestens 50 % bis unter 100 % gegenüber dem Ausgangswert innerhalb von 7 Tagen"
Wenn man dann, wie vom Gericht gefordert, den ICD streng nach Wortlaut und systematisch angeht, müsste man wie folgt vorgehen:
Feststellung der ersten drei Stellen des ICD (N17):
Mindesten eins der im Definitionstext behandelten Kriterien liegt vor:
- Anstieg des Serum-Kreatinins über einen gemessenen Ausgangswert um mindestens 0,3 mg/dl innerhalb von 48 Stunden
- Anstieg des Serum-Kreatinins von einem gemessenen Ausgangswert oder anzunehmenden Grundwert des Patienten um mindestens 50 % innerhalb der vorangehenden 7 Tage
- Abfall der Urinausscheidung auf weniger als 0,5 ml/kg/h über mindestens 6 Stunden
Im oben genannten Beispiel wäre (zumindest nach meinem bisherigen Verständnis) der zweite Punkt mit dem anzunehmenden Grundwert erfüllt. Also sind die ersten drei Stellen des ICDs N17 belegt.
Die vierte Stelle:
Bei Vorliegen eines histologischen Befundes ist die vierte Stelle mit "-.0-", "-.1-", "-.2-" oder "-.8-" zu kodieren. Ohne Histologie entsprechend "-.9-".
Die fünfte Stelle:
Hier werden die Stadien 1-3 definiert. Wie bereits beschrieben ist hieran problematisch, dass in den Stadien 1-3 nun nur noch vom Ausgangswert, nicht aber vom anzunehmenden Grundwert die Rede ist. Somit könnte ich im obigen Beispiel hier keinen Anstieg von mindestens 50 % belegen, da ich diesen nur mit einem anzunehmenden Grundwert erreiche. Da in der Stadieneinteilung jedoch der anzunehmende Grundwert nicht benannt wird, kann ich hier streng genommen kein Stadium 1 kodieren, sondern müsste an dieser Stelle N17.99 kodieren.
Das LSG macht es sich im genannten Urteil hingegen noch einfacher und umgeht die Diskussion um den anzunehmenden Grundwert, indem es sich daran festhält, dass im Wortlaut N17.- nur vom Anstieg die Rede ist:
"Wegen der engen Bindung des Gerichts an den Wortlaut bei der Auslegung, ist es dem Senat
auch verwehrt, die Leistungslegende unter Zugrundelegung des von der Klägerin angeführten
Umkehrschluss als erfüllt zu beurteilen. Der Wortlaut spricht von einem „Anstieg", also einer
Erhöhung. Wie oben bereits ausgeführt, lässt der Zweck der Vergütungsregelung, der in einer
routinemäßigen Abwicklung in einer Vielzahl von Behandlungsfällen liegt, keinen Spielraum für
weitere Bewertungen oder Abwägungen. Auch Bewertungen und Bewertungsrelationen müssen
außer Betracht bleiben.
Dabei schließt der Senat nicht grundsätzlich aus, dass unter nephrologischer Betrachtung ein
Umkehrschluss aus dem dokumentierten Abfallen des Kreatinin-Serums einen Rückschluss auf
ein akutes Nierenversagen erlauben könnte. Allerdings bedürfte eine solche Annahme, um
kodierfähig zu werden, einer korrigierenden Nachsteuerung durch die Vertragsparteien für die
Zukunft."
Mit dieser LSG-Lesart fällt mir momentan kein kodierbares Szenario ein, indem ein Patient mit ANV ins Krankenhaus kommt und erfolgreich therapiert wird. Es sei denn man hat zufällig einen Krea-Wert vorliegen, der in den vorangegangenen sieben Tagen gemessen worden ist.
Es wären dann nur die ANV kodierbar, die im Krankenhaus entstehen.
Wie so oft fällt es mir schwer zu akzeptieren, dass man in diesem Kodier-/Abrechnungssystem oftmals besser fährt, wenn man jeglichen medizinischen Sachverstand außer Acht lässt.
Viele Grüße,
FBR